Die Welt soll über die Tische rollen
oder
Jedes Wort barock und Ruine

 

»Es giebt so viele Morgenröthen, die
die noch nicht geleuchtet haben.«

Nietzsches Motto aus dem Rigveda
für seine MORGENRÖTHE

 


Es gibt verschiedene Lesarten eines Textes, der spürbar einer anderen Zeit entstammt. Der folgende ist ein wirres Dokument aus wirrer Zeit.
     Er ist vor fast achtzig Jahren – im Oktober 1919 – in der kulturrevolutionären Zeitschrift Der Gegner erschienen, wohl ohne weitere Beachtung zu finden. Diese Blätter zur Kritik der Zeit kennzeichneten ein Transitum : die Überwindung des Expressionismus, der die Künstlergeneration nach der Jahrhundertwende in seinen Bann gezogen und entscheidend geprägt hatte, durch die Radikalisierung des dadaistischen Experiments hin zu einer revolutionären praktischen Tätigkeit, deren Wirksamkeit noch offenkundig schien. Das hier vorgestellte Pamphlet M O R G E N R Ö T E mit dem Untertitel Einleitung zu einem Drama drückt diesen Anspruch in radikaler Form aus : als ein aufgeschäumter Mix aus der Atemlosigkeit des Expressionismus, mit unbekümmerter Begeisterung zusammengeklaubter metaphysischer Platitüden, aus Versatzstücken provozierender futuristischer Manifeste, dem Spaß am Unsinn, wie ihn der Dadaismus zelebrierte, aus Zitaten, die noch nicht existierten, und einem selbstironischen Schuß vorweggenommener surrealistischer Schreibe. In all seiner sprachlichen und gedanklichen Schludrigkeit ein über seine Zeit hinausweisender Text, bei dessen Lektüre ein Nietzsche-Zitat naheliegt, das wie eine Metapher für die Kunst des 20. Jahrhunderts erscheint : »I n t e r e s s a n t , a b e r  n i c h t  s c h ö n. – Diese Gegend verbirgt ihren Sinn, aber sie hat einen, den man errathen möchte : wohin ich sehe, lese ich Worte und Winke zu Worten, aber ich weiss nicht, wo der Satz beginnt, der das Räthsel aller dieser Winke löst, und werde zum Wendehals darüber, zu untersuchen, ob von hier oder von dort aus zu lesen ist.« (Der Wanderer und sein Schatten, Nr. 126)
     Eine für die literarische Moderne wichtige Dokumentation war die 1946 von Carola Giedeon-Welcker herausgegebene Anthologie der Abseitigen. Sollte eine künftige Bestandsaufnahme der Literatur des 20. Jahrhunderts die ausgreifende Absicht verfolgen, den Geist dieser Epoche zu umreißen, so müßte man noch einen entscheidenden Schritt weitergehen. Es erscheint sinnvoller, diesen Entwurf von den Rändern, den Fragmenten und Abseitigkeiten aus zu unternehmen, statt von ihren Zentren, das heißt ihren sprachlichen Meisterwerken, auszugehen. Manifestierte sich, verkürzt gesagt, der Geist des 18. Jahrhunderts in den künstlichen Ruinen einer sich des Ichs ver
gewissernden und emanzipierenden Erinnerung, so der des 19. Jahrhunderts in zum Architektur-Kitsch geronnenen Historismus, der erschrocken ist ob seiner gesellschaftlichen Zerstörungskraft. Das Gesicht des 20. Jahrhunderts ist gekennzeichnet vom blanken Entsetzen über eine bisher ungeahnte Destruktion, das sich austobt im wuchernden ruinösen Gebrauch von Sprache und Kulturkonsum. Darin liegt auch die tiefe Skepsis angesichts der Frage, wie ein folgendes Jahrhundert zu einer sein Schicksal selber gestaltenden Kraft zurückfinden soll. Als Folie solcher Fragen liest sich M O R G E N R Ö T E , deren Schwadronieren vom Proletariat schon abgelöst erscheint von den politischen Diskussionen ihrer Zeit. Wahrscheinlich hat man den Expressionismus etwas rasch zu Grabe getragen, ohne dabei zur Kenntnis zu nehmen, was die Kunst dieses Jahrhunderts ihm verdankt : er war ihr Zündfunke und ihr Durchlauferhitzer. Als erste geistige Bewegung schlug er sich ohne Vorbehalte auf die Seite der Verrückten, der Außenseiter und der Bohemians. Dazu ruft das Pamphlet auf mit einer noch romantischen, aber illusionslosen Begeisterung. »Wir brauchen die Spieler aller Qualitäten« gehört schon zu jenen Klängen, an der unsere Zeit (nicht nur literarisch) so arm geworden ist.
     Dieser Text wurde verfaßt von Hugo Herwig, über den kein uns bekanntes Lexikon Auskunft gibt. In der von Wieland Herzfelde im Malik-Verlag 1932 herausgegebenen Anthologie Dreißig neue Erzähler des neuen Deutschland findet sich von diesem Autor ein sozialkritischer Prosatext Der blaue Heiland, eine Geschichte um einen auf dem mecklenburgischen Fischland aufbegehrenden Pfarrer, der im entscheidenden Moment wieder seiner Kleinbürgerlichkeit verfällt. Dieses Buch verrät einige Angaben zur Person : Jahrgang 1893, aus dem Thüringer Wald stammend, der Vater erst Zimmermann, dann Baurat. In Jena und Göttingen studiert Hertwig Naturwissenschaften. Als Freiwilliger zieht er in den Ersten Weltkrieg. Am 7. November 1918 nimmt er als Soldatenrat am Schweriner Aufstand teil, danach an der Gründung einer Ortsgruppe der USPD, später der KPD und gibt das Organ des Arbeiter- und Soldatenrates heraus. Er beteiligt sich gemeinsam mit Roten Matrosen am mißlungenen Sturz des konservativen Soldatenrates. Daraufhin geht er über Bremen nach Düsseldorf, einige Jahre in der Illegalität lebend. Er beteiligt sich später an Siedlungsprojekten und schreibt gelegentlich Artikel. Am Vorabend des Faschismus verlieren sich für uns seine Spuren.
     Die Frage nach der Präsentation dieses Textes – ob vollständig abgedruckt, wie es sich der Salmoxisbote zum Prinzip gemacht hat, oder auf eine durchaus mögliche Geistesverwandtschaft hin gekürzt – wurde dahingehend entschieden, daß die unwesentlicher erscheinenden Textpassagen in einer kleineren Punktgröße gesetzt wurden.


GOETHE 22

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