Armin Szegedi

aus Am Sender, dem Kapitel III des Romanfragments

Bagpipewelt

Freitag

     Ein Befremden klart dann im Gewimmel der Tätärätätätigkeiten, in der Hitze eines Picadilly tagtäglicher Quisquilien hinauf in die Domhalle meiner monolithischen Trauer. Kühl ist ihr unter Spitzbogenarkaden, kühl und ungenehm, wenn sie schreitet durch leere Bankreihen, vorbei an zerknieten Planken und fahlen Lichtkegeln verbleiter Fenster. Echolotend greift sie nach allem, blendet den Soundtrack der Betriebsamkeit mit ihrem Getröte, Gerenne und Gerede unbeirrbar aus. Hält nicht an Altar und Taufbecken, hält sich nicht an sühnende Widder und blutflatternde Tauben, drängt nicht venerische Grotten, nicht zu Liebesäpfel und dem ganzen Zeugs von vanity fair. Verfolgt den Lauf der Tage mit zu Grunde gerichtetem Auge, wartet fröstelnd in Wintergärten, begeht in dicken Mantel geschlagen Orangerien, stört sich nicht mehr daran, daß sie atmet, daß sie Luft ins ewige Teelicht bläst, nur : die Talmischatten tanzen zu sehen. Schweigend den Facetten zugewandt, dann wieder ohne Eile und ohne Glut die Welt ins beliebig Amorphe sinken sehen — wo sollte man halten, wo Einspruch einlegen und warum ? Und : wer wäre der naphtalinduftende Supreme Court ?
     Fraglos, da war Ephemeres gewesen, das sich ein Hingucken lang den Anschein der Wirklichkeit gegeben hat, das mit einer Unverdrossenheit ins Leben trat, daß man an Realitäten glauben wollte, wenn auch vielleicht nur kurz. Es hatte mit mir Mühle gespielt und mich getrieben, meine paar Steinchen zu setzen. Der Äon spielt, der Äon ist ein spielender Knabe, hin und her setzt er die Brettsteine, selbstvergessenes Kindskönigtum. Oft hatte ich rasend schnell nur noch drei Steine und durfte springen, das Unwendbare zu verzögern, bis eine unerfindliche Geduld abgelaufen war.
     Was gab es nicht alles : Post von Ämtern, Hinweise auf Paragraphen, es gab ein ›binnen‹, ›umgehend‹, es gab allseitig schleppendes Nichtverstehen. Es gab auch verfallene Nachsendeanträge von Vormietern, die in neutralen Kuverts skandinavische Miniaturen bescherten. Pig in love, Anale Gier, Thaischlitze — alles in großen Lettern auf Hochglanzschriften, die keiner gerne bei sich finden ließ. Es gab das Bundesligaloch mitte die Woche und also nicht zum Morgenkaffee Lektüre der Sportseiten, sondern zum Beispiel der Partnermarkt mit lauter Schnäppchen. Es gab Vertrauen in Bausparverträge und die Wärme von Wickeltischen. Es gab Vatis Hobby und die Pflege des Rasens als beruflichen Ausgleich. Es gab Muttis ovarial zufriedenen Blick beim Anblick miracolischmatzender Stöpkes. Es gab Konfirmandenschmaus mit Taucheruhren auf dem Gabentisch. Es gab befreundete Familien mit Mittelklassekombi und der Langeweile aufwachsender Kinder. Man hörte von Partnerschaften, die hielt nur noch das Begleichen von Internatsrechnungen zusammen. Es gab Schlaftabletten im Nachtschrank als Faustpfand gegen die dilettantischen Affären des anderen. Es gab nachmittägliche Rauchgesellschaften, da trafen sich Gestalten, die in sich bündelten : allerlei Nietzsche, Kant und Lungenemphysem. Die ich in eigener Regie abhielt, erreichten nie aussagendes Format. Auch Tizia gab es in meinem jungen Leben und seiner Nachbarschaft, es gab aber auch unabhängig davon Schmerzen und von seinen Boten befallene Nerven. Es gab raffinierte Pullover und Schuhwerk, das einen abzulenken vermochte. Es gab zu lindern, und nicht immer erschien dies ausgeschlossen. Es gab Stunden der Zwiesprache, Augenblicke voll Nähe, die nicht nur das Bedauern fortwährender Einsamkeit zurückließen, es gab Gelegenheiten, Occcasionen und Obsessionen, es gab die Wollust unsinnigen Glücks, Strohfeuer delikater und grober Vergnügungen, es gab unverhofft günstige Wendungen und den einen oder anderen Luxus. Es gab Tage, da hatte ich nichts zu essen. Es waren wenige, und nicht die schlechtesten. Es gab warmen Blütenduft nahe tropischen Airports und das Wissen um die Kälte zuhaus. Dann reihenweise Jacketts und Binder hinter manirierten Lachsröllchen der Businessclass. Es gab das Schaukeln von Booten und den Blechspiegel des windstillen Meers. Es gab den Notfall, die Spannung und das Verschieben auf nachher. Manchmal auch Freunde, erklärtermaßen für immer, die waren später vergessen. Es gab auch Zustimmung von maßgeblicher Seite und Duldung im Kreis von Experten. Es gab metaphysische Momente, in denen eine Lage in mir sich selbst applaudierte, es gab den grellen Exzeß der Sinne, den Rhythmus, das Fieber, die Trance, es gab unnennbare Katarakte, das Erfaßtwerden von den Windhosen kollektiver Räusche, den Fusel, die Kelche, überbordenden Schaum auf den Festen breiter Boulevards. Es gab wohl manches.
     An den Morgen aber, wenn sich die Schleier lichteten und es neblig wurde, trat zuverlässig dies Befremden mir zur Seite, hing in mir fest, war ich Findling auf Krähenfeldern nach der Ernte, litten meine tragenden Teile unübersehbar Materialermüdung, erschauerte mein Menhirblick vor sich selbst. Treuer Gefährte, dies Befremden — ein Asteriskus an allem Wahrgenommenen, Fußnote des Trübsals, annihilierende Randbemerkung zum Frühstücksei. Ich hielt mich nach außen zusammen, so gut es ging, war bemüht um höflichen Umgang, rasierte, was zu rasieren war, grüßte und schlug Tennisbälle, schrieb Klausuren und besorgte den Abwasch, versprach und hielts, erbrach nur in Notfällen das Siegel der Verschwiegenheit. Aber wenn mein Vademecum und ich einen Tag erledigt hatten, dann erst stellte sich, manchmal, Erleichterung ein. Ohne Eifer legte ich den Kopf in eine Senke und hoffte auf den Traum und eine Himmelsleiter, an deren Ende ich für eine Weile schlief.
     Grau waren die Tage, wenn ich addierte, was mir blieb, flüchtig das Farbenspiel der Höhenflüge, bleich das Konfetti der Tänze, durchzogene Triumphbögen nur Bretterverschläge, nur eine handvoll unruhigen Schlafs am Lagerfeuer der Nacht. Die Karawane zieht weiter — ich kann nicht mit.

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