Distelmeer
Bernd Lüttgerding

Wehe dem, der vom irdischen
Schlafe erwacht, ohne angenehm
geträumt zu haben, denn wüste
und dunkel ist die Zukunft

Ludwig Tieck


     ... hat es endlich ein Ende und — wie das Herz trommelt bis hinauf in den Hals, kaum Luft noch Einlaß findet — ich kann mich aufrichten und dehnen. Keuchend, gestützt auf zerschürfte Hände, zieht er die Beine an sich, schiebt den Rumpf rückwärts und steht. Mit den Fingern presst er seine Schläfen, wankt, tastet nach einem Birkenstamm, an den gestützt er reglos verharrt. Die Hatz ist lang gewesen und die Zäune der Wiesen sind aus Stacheldraht zumeist. In der Waldung, dort wo Wege seltener und die Umschlingungen des Geästs inniger werden, hat er bereits niemanden mehr gesehen, ist trotzdem weitergerannt, mal hinter diesen Baum, in jene Mulde sich drückend, auf daß sie an ihm vorbeiliefen. Sie taten es nicht. Nun sinkt er der Birke zu Füßen. Rot verschmiert ragen die Knie aus den Rissen in seiner Hose und die Jacke ahmt schmutzig, schweratmend, auch aller Knöpfe bar ihren Träger nach. Er entfernt angestrengt einen Splitter aus dem Handballen — die Falte wandert zwischen die Brauen und spaltet eine der Striemen, die vielleicht Brombeerranken seinem Gesicht beigebracht haben. Laub und Zweige hängen noch an ihm. Über Laub und Zweige ist er gekrochen als sich der Wald zur Faust ballte, den Kopf ganz bodennah durchs graubraune Gestrüpp, gekrochen durch Dreck und Steine, durch Brombeerranken wohl auch, die sich ein wenig verhakt haben in seinem Gesicht, bis es endlich ein Ende hatte und eine Lichtung verlockend zu lächeln schien. Unter den Schuhen windet sich aschenes Kraut. Disteln überall; hier kleinere, einzeln, je weiter entfernt aber, desto größer und dichter gedrängt stehen sie staubig, kalkhell vor dem Himmel. Wie Rauch fließen Schwaden dort in zarten Abstufungen dem Dunkel entgegen. Überall Disteln. Etliche, dornige Korallen, staken vor dem violett schwelenden Streifen Tag. Ein Luftzug bläht die Hosenbeine. Knie und Hände erblauen langsam. Durch Schenkel und Arme rieselt die Kälte bis in den Leib. Ruhiger aber ist jetzt das Herz. Nur gelegentlich sticht Atem noch die wunde Lunge. Der linde Blutgeschmack im Mund verweilt bislang. Aufstehen und weitergehen, leicht gesagt, gedacht, wie immer. Nicht mehr frieren.
     Die Knie brennen; vor ihnen sperrt die Hose zwei Mäuler auf. — Geradeaus geratewohl. Es wird ruhiger. Es riecht auch gut. Pflanzlich, kalt, nach Feld und Ferne.
     
Das Stück Tag ist höher geglitten, ist weißlich geworden und starblind. Er geht hindurch zwischen den Karden, die sich, kaum merklich zunächst, enger schmiegen, an seinen Kleidern zerren und schrammen. Solche Disteln, die ihn an Länge überragen, sind schon häufiger und bald wird er, die Hände in den Ärmeln seiner Jacke verkrallt, die Arme, Ellbogen voran, um den Kopf gebogen, einen Tunnel bahnen durch den engen Distelwald, der sich über ihm zu schließen beginnt. Im Wind klirrt manchmal ein Heer von Stacheln. Nicht blicke zurück nach Auswegen. Strauchelnd, kaum Nötigstes sehend, ist er von den Mühen um seinen Weg ganz eingenommen, so daß es leer in ihm bleibt. Blicke nicht zurück; nichts, was dort war, gilt mehr. Des Vergangenen Wert mißt sich am Jetzt und war es letztlich doch schön, nicht schlimmer als dies, so ist dennoch jenes verloren und nur noch ein müdes Licht, das die Augen verdirbt. Nicht blicke zurück, denn was auch dort war, ist verloren. Gab es eine Stadt, wanden Lippen sich wie Engerlinge, oder entströmte es ihnen siedend; die Leute, Figuren oder Schatten und Gesichter, ob aus Lächeln oder Gips gemacht; schließlich, wars ein Ortolan, der sang, als eine Brise schwer und warm von Azaleen her den Sommer trug ? — Es ist einerlei.
     Mitunter birst ein härer Stengel, aber die krausgewundenen Blätter strecken Nadeln ihm von überall entgegen und nichts sieht er, als Spitzen, Starr und Staubiges. Hätte es doch ein Ende oder käm ein Weg mir in die Quere, eine Lichtung wenigstens, ja, wenigstens eine Lichtung, denn rasend machen die Stiche. Nein, keine Umkehr, auch kein Ende, nein, es nimmt einfach kein Ende ...

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