Theodor Reik spricht

Worte über Weimar

 

»Die Forderung des Tages« — das ist eine von GOETHES bevorzugten Maximen. Mein Blick wandert von FREUDS Bildnis zu GOETHES Büste auf dem Buchregal. Im April des Jahres 1825 kam der siebenjährige Walther von Goethe mit einem Album in der Hand zu seinem berühmten Großvater, in dem kleinen Buch hatten sich zuvor schon viele Damen und Herren der Weimarer Hofgesellschaft mit Denksprüchen verewigt. Die letzte Eintragung stammte von Frau Hofmarschall von Spiegel; sie hatte sich für die melancholischen Worte JEAN PAULS entschieden : »Der Mensch hat hier dritthalb Minuten : eine zu lächeln, eine zu seufzen und eine halbe zu lieben, denn mitten in dieser Minute stirbt er« Nachdenklich las der 76jährige Dichter diese Zeilen, wobei er in sich einen gewissen Widerwillen gegen ihre zweifelhafte emotionale Affektiertheit aufsteigen spürte. Ihre sentimentale Resignation provozierte seinen Protest. Er nahm die Feder zur Hand, und während JEAN PAULS salbungsvolle Lebensweisheit noch in ihm nachklang, schrieb er mit seiner schon etwas zittrigen Hand diese leicht und gefällig fließenden Verse :

Ihrer sechzig hat die Stunde,
Über tausend hat der Tag.
Söhnchen ! werde dir die Kunde,
Was man alles leisten mag.

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