Kopenhagen 1843
A, Ästhetiker
Victor Eremita
Søren Kierkegaard

Aus einer Lesung vor den lieben

     Da es dem Bestreben unserer Vereinigung widerspricht, zusammenhängende Arbeiten oder ein größeres Ganzes zu liefern, da es nicht unsere Tendenz ist, an einem babylonischen Turm zu arbeiten, den Gott in seiner Gerechtigkeit, vom Himmel herniedersteigend, zerstören kann, da wir in dem Bewußtsein, daß jene Verwirrung mit Recht geschehen ist, es als das Eigentümliche alles menschlichen Strebens in seiner Wahrheit anerkennen, daß es fragmentarisch ist, daß es eben hierdurch von dem unendlichen Zusammenhang der Natur sich unterscheidet; daß der Reichtum einer Individualität eben in ihrer Kraft in fragmentarischer Verschwendung besteht, und daß dasjenige, was den Genuß des produzierenden Individuums ausmacht, auch der des rezipierenden Individuums ist, nicht die beschwerliche und genaue Ausführung oder das langwierige Erfassen dieser Ausführung, sondern das Erzeugen und Genießen der blitzenden Flüchtigkeit, die für den Hervorbringenden ein Mehr enthält gegenüber der fertigen Ausführung, da sie die Apparenz der Idee ist, und für den Rezipierenden ein Mehr enthält, da ihre Fulguration seine eigene Produktivität weckt — da alles dies, sage ich, der Tendenz unserer Vereinigung widerspricht, ja da die vorgelesene Periode beinahe als ein bedenkliches Attentat auf den Interjektionsstil betrachtet werden muß, in welchem die Idee ausbricht, ohne zum Durchbruch zu kommen, und dem in unserem Gemeinwesen Offizialität beigelegt wird : so will ich, nachdem ich darauf aufmerksam gemacht habe, daß mein Verhalten immerhin nicht aufrührerisch genannt werden kann, da das Band, das diese Periode zusammenhält, so locker ist, daß die darin enthaltenen Zwischensätze sich aphoristisch und recht eigenwillig hervordrängen, lediglich daran erinnern, daß mein Stil einen Versuch gemacht hat, dem Anschein nach zu sein, was er nicht ist — revolutionär.
     Unsere Gesellschaft verlangt bei jeder einzelnen Zusammenkunft eine Erneuerung und Wiedergeburt, und zu diesem Zweck, daß ihre innere Tätigkeit sich durch eine neue Bezeichnung ihrer Produktivität verjünge. Bezeichnen wir unsere Tendenz also als einen Versuch im fragmentarischen Streben oder in der Kunst, hinterlassene Papiere zu schreiben ! Eine völlig durchgeführte Arbeit steht in keinem Verhältnis zur dichtenden Persönlichkeit; bei hinterlassenen Papieren empfindet man wegen des Abgebrochenen, Desultorischen stets ein Bedürfnis, die Persönlichkeit mitzudichten. Hinterlassene Papiere gleichen einer Ruine, und welche Behausung könnte Begrabenen wohl gemäßer sein ? Die Kunst besteht nun darin, künstlerisch die gleiche Wirkung zu erzeugen, die gleiche Nachlässigkeit und Zufälligkeit, den gleichen anakoluthischen Gedankengang, die Kunst besteht darin, einen Genuß zu erzeugen, der niemals präsentisch wird, sondern stets ein Moment der Vergangenheit in sich trägt, so daß er gegenwärtig ist in der Vergangenheit. Dies kommt schon in dem Wort »hinterlassen« zum Ausdruck. In gewissem Sinne ist ja alles, was ein Dichter geschaffen hat, hinterlassen; niemals aber würde man darauf verfallen, das vollkommen Ausgeführte eine hinterlassene Arbeit zu nennen, wenn es auch die zufällige Eigenschaft hätte, daß es nicht mehr zu seinen Lebzeiten veröffentlicht wäre. Auch das ist, wie ich annehme, eine Eigenschaft jeder menschlichen Schöpfung in ihrer Wahrheit, so wie wir sie aufgefaßt haben, daß sie Hinterlassenschaft sei, da es dem Menschen nicht vergönnt ist, in der ewigen Schau der Götter zu leben. Hinterlassenschaft möchte ich also nennen, was unter uns geschaffen wird, das heißt künstlerische Hinterlassenschaft; Nachlässigkeit, Indolenz möchte ich die Genialität nennen, die wir schätzen; vis inertiae das Naturgesetz, das wir verehren. Hiermit bin ich nun unseren heiligen Sitten und Gebräuchen nachgekommen

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