Martin Jordan

Mein Weg zu Ananda Marga

     Wer, so der Schüler-Express, führende Fernsehsendung der 70er, als Jugendlicher nicht mit anderen Schülern an Straßenkreuzungen herumlungerte und zum Mopro wurde; wer also nicht mit Mofas und Jeansanzügen Spielplätze terrorisierte und The Sweet hörte; wer auch nicht am Bahnhof Zoo landete, der fiel fast zwangsläufig einer sogenannten Jugendsekte in die Hände. Die Hälfte der Buch-Neuerwerbungen der Stadtbibliothek Lesum, der ich damals als glühendster Entleiher angehörte, handelte von diesen Jugendsekten. Zwar hat es in Lesum nie eine andere Jugendsekte gegeben als den Konfirmandenkreis der St. Martini-Gemeinde, der vergleichsweise harmlose Methoden der Gehirnwäsche anwandte (Tee, Kekse, Friedensgebete). Aber in diesen Büchern — was gab es da nicht alles zu entdecken ! Da gab es einen Sun Jang Mun im fernen Osten, der bewundernswert straff eine Gruppe meist amerikanischer Jungirrer um sich scharte, um diese zur Gartenarbeit zu zwingen und durch Schlafentzug gefügig zu machen. Mich faszinierte besonders die grenzenlose Blödheit seiner Jünger. Die kalten Duschen, die Schläge, die Gartenarbeit. Und trotzdem nichts als das Ziel, weiterhin für Mun zu wuppen und dann in einer Massenveranstaltung eine Frau zu heiraten, die Mun für einen aussuchte. Immerhin hatte der energische Gelbe ein todschickes Logo und war sogar ins Vereinsregister eingetragen.
     Die Kinder Gottes fand ich etwas schlaff. Einfach nur Hippietum, aber Terror durch sanfte, suggestive Gruppengespräche. Und abgeschlossene Türen zum eignen besten der Konvertiten. Skurril auch Hare Krishna. Kahlgeschoren durch die Fußgängerzonen tingeln und Kassetten verkaufen, wer´s mag ... aber ein fröhlicher Haufen. Lernte sie allerdings erst in den 90ern kennen, denn vor WEKA und BREMA in Lesum saßen höchstens einige Kinder auf einer Wolldecke und verkauften Playmobilfiguren. Scientology gab es auch schon, aber das war mir nicht bunt genug. Bißchen zu geistarm.
     Die deutschen Sekten hatten immer stacheldrahtumzäunte ehemalige Gutshöfe, die man als freier Mann betrat und (wenn überhaupt) als gebrochener Grauhaariger verließ. Die Rädelsführer waren nie zu fassen, sondern tauchten, wenn der Boden zu heiß wurde, gleich woanders wieder auf und waren — zack — wieder von einer Jüngerschar umgeben.
     Selbstmord kam öfter vor. Die Hälfte der Jugendbücher wurde ja im Nachfeld des Massenselbstmordes November 1978, als in der Siedlung Jonestown im Dschungel Guyanas 914 Anhänger der Volkstempler auf Anweisung ihres Messias Jim Jones starben, geschrieben, um die Lesumer Eltern erst so richtig in Panik zu versetzen. Wird Matthias, wird Karsten, wird Gerhard auf Nimmerwiedersehen in einer Jugendsekte verschwinden, anstatt den Radiohandel des Vaters weiterzuführen ? Das beste, das absolut beste an diesen Büchern waren aber die Artikel über ANANDA MARGA. Diese Sekte muß wirklich exquisit gewesen sein : wenn Hare Krishna der Käfer war, war ANANDA MARGA der Porsche. Gelbe Gewänder, Räucherstäbchen, Schweigegebot und was das Herz begehrt. Straffe Kommunen. Sex ohne Limit. Und immer mal wieder, um dem Ruf als gefährlichste Jugendsekte aller Zeiten (der Rekord steht noch) gerecht zu werden, setzte sich jemand auf einen öffentlichen Platz, schaute grimmig oder versonnen in die Gegend, wartete, bis sich genügend Publikum versammelt hatte und zog aus seinem gelben Gewand einen Benzinkanister und Streichhölzer hervor. Dann der Ruf : Für Ehre und Ruhm von Ananda Marga, eine Stichflamme und Stoff für neue Bücher. Wer hätte sich dem Reiz von ANANDA MARGA nicht entziehen können ? Gelbes Gewand statt Schlaghose und Synthetikpullover. Benzinkanister statt Schulranzen. Eine Schachtel Streichhölzer. Kein Zwang mehr, die neue von den Bay City Rollers zu kaufen und eine Quarzuhr und ein Fahrrad mit zehn Gängen. Wie oft saß ich im blühenden Garten unseres Hauses, umgeben von Hummelgesumm (auf der Veranda saß die greise Hausbesitzerin und blätterte, weil sie nur platt und französisch sprach, entweder im Blatt des Heimatvereins Lesum oder dem PARIS MATCH), setzte mich auf den Boden und rief Für Ehre und Ruhm von ANANDA MARGA ! Allerdings ließ ich die Nummer mit der lebenden Fackel lieber weg, denn das war meiner Ansicht nach zu gefährlich.
     Später besuchte ich alle möglichen Sekten. Unvergessen der große Kongreß von Jehovas Zeugen in der Bremer Stadthalle. Die Menschenfreundliche Gesellschaft der Engel des Herrn von F. L. A. Freytag am Paulskloster im Ostertor — keine Jugendsekte, sondern eine dieser gefährlichen Seniorensekten. Die Mormonen. Neuapostolische Kirche. Niemand konnte mir aber bieten, was ANANDA MARGA zu bieten bereit war.
     Lebt noch jemand von ANANDA MARGA ? Vielleicht in einer Spezialklinik für Brandverletzungen ? Wer oder was ist eigentlich ANANDA MARGA ? Was war das Programm, welches das Ziel ? Wo seid Ihr, grimmige Kanisterträger ? Wo seid Ihr, Sterne meiner Jugend ?

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