1908

GRENZFRAGEN DES NERVEN- UND SEELENLEBENS. Der Lärm. Eine Kampfschrift gegen die Geräusche unseres Lebens


Von Theodor Lessing


V i e r t e s K a p i t e l.


Geräusche.

Wohltuend ist für jedermann.
Wofern er sich entrüsten kann.

    Wo soll ich beginnen ? Welche aus alle den quälenden Lärmgewalten zuerst herausheben ? — Schnell verbrauchte Bevölkerungen atmen und sterben im Getobe unermesslich anschwellender Riesenstädte. Atmen im Dunst und Gestank der Fabriken, im Abhub der Trottoire, im Staube ihrer kleinen Wohnungen; in der grässlichen Atmosphäre von Russ, Rauch und Schmutz, die über den Städten liegt. Hunderttausende, überarbeitet, überlastet, übermüdet ! Auf engstem Raum in die riesigen, sonnenlosen steinernen Kisten gesperrt, wo sie leben und sich betäuben, streiten und Kinder zeugen; immer neue Hunderttausende; Sklaven der Geräte, Besitztümer und Institutionen. In der grauenhaften Eigenbrödelei der Einzelkochwirtschaft und Einzelhauswirtschaft, ein jedes streng auf sein »Eigentum« erpicht und eben darum beständig zusammenhockend und einander in den Ohren liegend. Ach, so hässlich an Gestalt und Gesicht ! Recht eigentlich verunstaltet, deformiert, unnatürlich, verkümmert, ungesund ! So leben sie am Leben vorüber, ruhelos einander den Kampf erschwerend, einer auf des anderen Nervenklaviatur spielend, roh, primitiv, abgeschmackt, zwecklos. Nicht bösartig, aber töricht und urteilslos. Nicht verantwortlich und frei, aber unschön und stumpf. Wie könnten denn auch w i r in unserer Mischung von fordernder Sinnengier und bedürftigem Aberglauben des L ä r m e s entbehren ? Er ist uns ein grosser Segen, denn — er betäubt. Er lässt uns nicht zum Bewusstsein unsrer selbst kommen, nicht zum Bewusstsein all dieser Armut, all dieser Armseligkeit ...

1.

    Aus diesem Gelärme will ich zunächst das niederträchtige, überflüssige P e i t s c h e n k n a l l e n denunzieren, über dessen Schändlichkeit schon S c h o p e n h a u e r so lebendige Worte schrieb, dass ich nichts Besseres weiss, als wenigstens einen kurzen Passus seiner Abhandlung hierher zu setzen. »Die Sache stellt sich dar als reiner Mutwille, ja als frecher Hohn des mit den Armen arbeitenden Teiles der Gesellschaft gegen den mit dem Kopf arbeitenden. Dass eine solche Infamie in Städten geduldet wird, ist eine grosse Barbarei und eine Ungerechtigkeit, um so mehr, als es gar leicht zu beseitigen wäre durch polizeiliche Anordnung eines Knotens am Ende jeder Peitschenschnur. Es kann nicht schaden, dass man die Proletarier auf die Kopfarbeit der über ihnen stehenden Klasse aufmerksam mache; denn sie haben vor aller Kopfarbeit eine unbändige Angst. Dass nun aber ein Kerl, der mit ledigen Postpferden oder auf einem losen Karrengaul die engen Strassen einer volkreichen Stadt durchreitend, mit einer klafterlangen Peitsche aus Leibeskräften unaufhörlich klatscht, nicht verdiene sogleich abzusitzen, um fünf aufrichtig gemeinte Stockprügel zu empfangen, das werden mir alle Philantropen der Welt, nebst den legislativen, sämtliche Leibesstrafen aus guten Gründen abschaffenden Versammlungen nicht einreden. Aber etwas noch Stärkeres als Jenes kann man oft genug sehen, nämlich so einen Fuhrknecht, der allein und ohne Pferde durch die Strassen gehend, unaufhörlich klatscht : so sehr ist diesem Menschen der Peitschenknall zur Gewohnheit geworden, infolge unverantwortlicher Nachsicht. Soll denn, bei der so allgemeinen Zärtlichkeit für den Leib und alle seine Befriedigungen, der denkende Geist das Einzige sein, was nie die geringste Berücksichtigung noch Schutz, geschweige Respekt erfährt ? — Fuhrknechte, Sackträger, Eckensteher u. dergl. sind Lasttiere der menschlichen Gesellschaft, sie sollen durchaus human, mit Gerechtigkeit, Billigkeit, Nachsicht und Vorsorge behandelt werden; aber ihnen darf nicht gestattet sein, durch mutwilligen Lärm den höheren Bestrebungen des Menschengeschlechtes hinderlich zu werden. Ich möchte wissen, wie viele grosse und schöne Gedanken diese Peitschen schon aus der Welt geknallt haben. Hätte ich zu befehlen, so sollte in den Köpfen der Fuhrknechte ein unzerreissbares nexus idearum zwischen Peitschenknallen und Prügelkriegen erzeugt werden.« Gegen unnützes, brutales Peitschengeknall bietet in der Tat weder die Strafgesetzgebung, noch das bürgerliche Recht irgendwelchen Rechtsschutz. Die gesamte Regelung des Verkehrs der Privatfuhrwerke, Droschken, Hansoms, Gepäckwagen, Lastwagen, Omnibusse und Autobusse untersteht den Ortspolizeibehörden, die zwar allerlei Vorschriften und Verfügungen erlassen, in der Regel aber keine Machtmittel haben, um zahllosen Übergriffen der auf den Strassen lebenden Arbeiterklassen (wie Fuhrleute, Kutscher, Pflasterer, Trottoir-, Kanalarbeiter usw.) wirksam zu begegnen. Nur in wenigen Städten besteht eine ausgiebige Polizeigesetzgebung über Peitschenknallen, Räderknarren und das Schottern der Lastfuhrwerke. In Deutschland gibt es, wenn ich recht unterrichtet bin, bisher nur in Nürnberg einen »Verein zum Schutz gegen den Strassenlärm«, der seine Kräfte im Dienste von Schillers »erster Bürgerpflicht« öffentlich geltend macht. Hingegen soll in England und Amerika schon weit mehr auf die Hygiene des Ohres geachtet werden als das in Deutschland und Österreich leider der Fall ist. Ich will eine Notiz aus einer New Yorker Zeitung hierhersetzen, aus der zu sehen ist, welchen Segen eine einzelne energische, hochgesinnte Persönlichkeit im Kampfe gegen das öffentliche Lärmgetöse zu stiften vermag. »Miss Rice schlug ein sehr zweckvolles Verfahren ein : sie ging nicht gegen den grosstädtischen [!] Lärm überhaupt vor, sondern sie behandelte die Sache portionsweise. Zunächst eröffnete sie einen Feldzug gegen das Höllengetöse, das bisher im New Yorker Hafen durch die zahllosen Dampfpfeifen und Glocken der Schiffe, Petroleum- und Benzinboote, Vaporettos und Fähren veranstaltet wurde. Die energische Frau setzte sich mit Stadt- und Hafenbehörden, sowie mit einflussreichen Persönlichkeiten zu Lande und zur See in Verbindung und ruhte nicht, bis sie eine Verfügung der Hafenpolizei erreicht hatte, durch die das Lärmen mit Nebelhörnern und Sirenen sowie das überflüssige Tuten und Pfeifen allen Schiffen, welchem Lande sie auch angehören und was immer der Zweck ihrer Fahrten sei, innerhalb der Bai von New York strengstens verboten wurde. — Ihre nächste Massnahme war die Begründung eines Vereins zur Bekämpfung des Strassenlärms im Innern der nordamerikanischen Riesenstadt. Auch hier wird wieder schrittweise vorgegangen. In erster Linie soll der Lärm in der Nähe der Krankenhäuser unterdrückt werden. Der Leiter eines solchen veröffentlichte eine Erklärung, wonach lediglich infolge des fast unausgesetzt von allen Seiten in die Anstalt hereindringenden Lärms im Laufe eines Jahres zwei Kranke i r r s i n n i g geworden sind. Auch andere Fachmänner und Hygieniker haben die Dringlichkeit von Vorschriften zur Sicherung der Ruhe der Krankenhäuser energisch betont. Man nimmt in New York allgemein an, dass demnächst die Behörden den Anträgen des von Miss Rice ins Leben gerufenen Antilärm-Vereins entsprechen werden. Dieser hat bereits eine Reihe ganz bestimmter Forderungen aufgestellt : in der Nähe von Krankenhäusern, Kliniken, Sanatorien und ähnlichen Anstalten soll das Läuten der Strassenbahnglocken aufhören, auch jeder Marktschreier, Drehorgelspieler wie jeder schreiende Trunkenbold durch einen Schutzmann fortgetrieben oder nötigenfalls verhaftet werden. Auch in der Nähe von Schulen, Erziehungsanstalten, grossen Pensionaten soll der Lärm inhibiert werden. Auch die Milchwagen, die in New York durch die aneinander schlagenden Blechkannen und unter Mitwirkung des meist erbärmlichen Strassenpflasters einen Heidenlärm veranstalten, sind schon ernsthaft aufs Korn genommen.« — Übrigens sei bemerkt, dass die Stadt New York auch schon früher den Anfang zu einer eignen Lärmgesetzgebung gemacht hat. So gilt dort als Gesetz, dass ein Kutscher, der Baumstämme oder Eisenstäbe transportiert, gehalten ist, die Enden des Holzes oder Eisens mit Tüchern oder Stroh zu umwickeln, widrigenfalls er Strafe bis zu 25 Dollars zu zahlen hat. Auch in London kommt man neuerdings notgedrungen zu ähnlichen Schutzbestimmungen. So untersagen die Reglements des London-Comity-Council spezialisierten Arten des Lastverkehrs die Benützung der City-Strassen zwischen abends zehn und morgens sieben Uhr. Lastfuhren können während dieser Zeit nicht die Strassen der Innenstadt befahren. — Es liesse sich wohl noch mancherlei durch Einführung eines besseren geräuschlosen Beton oder Asphaltpflasters und ferner durch exaktere Verfügungen über die erlaubte Spurweite und den Radbelag der Lastwagen sowie über Nägel und Hufbeschlag der Pferde erreichen. Wir sehen an dem ungemein grossen beständig noch anschwellendem Bicykleverkehr (der nur durch die unaufhörlichen Warnungssignale geräuschvoll ist), dass Gummireifen im Verein mit geräuschlosem Pflaster keinen Verkehrslärm aufkommen lassen ... Endlich ist nur Frage der Zeit, dass sich die Wohn und Erholungssphäre der Grossstädter von ihren Verkehrsbezirken radikal abtrennt ...

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    In einer Abhandlung über Entartung hat M a x  N o r d a u die wachsende Empfänglichkeit für Lärm (wie übrigens alles, was irgendwie auf Geschmack und Kultur hindeutet), als ein Symptom »sozialer Neurasthenie« gekennzeichnet. Seine Satire malt folgendermassen den lärmfreien Zukunftsstaat der »Entarteten« : »Nachdem es sich häufig ereignet hat, dass aufgeregte Personen, die einem plötzlichen Zwangsantrieb nicht widerstehen konnten, aus ihren Fenstern mit Windbüchsen und sogar ohne den Versuch der Heimlichkeit im offenen Überfall Gassenjungen totgeschossen haben, die schrille Pfiffe oder grundlose Gellquietsche ausgestossen, dass sie in fremde Wohnungen, wo von Anfängern Klavierspiel oder Gesang geübt wurde, eingedrungen sind und Metzeleien angerichtet, dass sie Dynamitanschläge auf Pferdebahnwagen ausgeführt haben, deren Schaffner läutete oder pfiff, ist es gesetzlich verboten worden, auf der Strasse zu pfeifen oder zu grölzen; für Klavier- und Gesangübungen sind eigene Gebäude hergestellt worden, die so eingerichtet sind, dass kein Ton aus ihrem Innern nach aussen dringt, das öffentliche Fuhrwerk darf kein Geräusch machen und gleichzeitig ist auf den Besitz von Windbüchsen die schwerste Strafe gesetzt.« — Was hier im Hohn und zum Spott ausgesprochen wurde, nehme ich als ernstes Postulat der Zukunft in Anspruch; einen Teil seiner Verwirklichung hoffen wir noch zu erleben. ...

2.

    Wenn die Klage über den Peitschenknall heute weniger aktuell ist, als in den Tagen S c h o p e n h a u e r s, so bedroht dafür unser Nervensystem ein neues Geräusch, das unvergleichlich schrecklicher ist, als aller lärmende Trubel, den die einst lebenden Geschlechter von toten oder lebendigen Radauinstrumenten erdulden mussten. Ich denke an die transportablen Maschinen, die Strassenlokomobile, das Motorrad, den Motoromnibus, vor allem aber an das Automobil. Diese Entvölkerungsmaschine, die das Ziel der M a l t u s schen Theorieen auch ohne Hungersnöte erfüllt, verändert vollkommen das Strassenbild der modernen Städte. Vierhundertpfündige Kraftbolzen rülpsen roh daher im tiefsten Tone der Übersättigung. Schrille Pfeifentöne gellen darein. Riesenautos, Achthundertpfünder, die »jeden Rekord nehmen«, stöhnen, ächzen, quietschen, hippen und huppen. Motorräder fauchen und schnauben durch die stille Nacht. Blaue Benzinwolken rollen mit grauenhaftem Gestank über die Dächer. Bleichen das Grün der wenigen Bäume, wandern über das kleine schmale Stückchen schmutziggrauen Himmel, das zwischen den kahlen Steinmauern irgendwo noch auftaucht. Grässliche Signale durchbrechen von Zeit zu Zeit die erstickende, bleierne Dunstschicht. Das ist die Morphologie der Stadt. Auf das stolze Zeitalter der stinkenden Steinkohlenbahn und lärmenden Dampfmaschine ist die lautere und stinkendere Periode der Kraftaufspeicherungs- oder Explosivmaschinen gefolgt. Der Zylindertyp weicht dem Turbinentyp, der Kohlengeruch dem Benzingestank. Niemals hat sich der Mensch mit mehr Gelärm, unter schrecklicherem Geruch über die Erde bewegt. Es ist wahr, wir sind von der Postkutsche und der romantischen Tuterei der Postillone erlöst. Wir sind erlöst von der ewigen Klingelei und holprigen Rasselei der kleinen Pferdebahn, Peitsche und Sattel kommen ausser Gebrauch. Das Pferd avanciert vom armen Arbeitssklaven zum Luxustier, und kein Vernünftiger wird die Droschke alten Kalibers dem modernen Auto vorziehen. Aber der Tausch überbürdet unsere Sinne mit einer entsetzlichen Belästigung, die so lange dauert, als die Region des Privatlebens und jene des Geschäftsverkehrs nicht getrennt sind und nicht das Maschinenleben auf eigens errichtete Fahrstrassen mit geräuschlosen Gleisen gebannt wird. Die heilige Theresia hat die Hölle als den Ort definiert, »wo es stinkt und man nicht liebt«. Vielleicht hat sie an die Friedrichstrasse in Berlin gedacht. — Ich glaube gewiss, dass Autos, Motorräder, Kraftwägen und lenkbare Flugmaschinen die Vehikel der Zukunft sind; ich glaube, dass erst die allgemeine Ausbreitung des elektrischen Vorortverkehrs schliesslich ganz neue Riesenstädte, voll Feldern, Parks und Gärten, möglich macht, deren eine einzige vielleicht so gross wie halb Belgien ist. Ich zweifle daher auch nicht, dass der momentan moderne »Autosport« etwas Besseres ist als ein Kind von Luxus und Langeweile. Aber so verständlich dieser Sport ist, so verführerisch und so verlockend, — es ist doch andererseits nicht zu verkennen, dass erst das Kraftfahrzeug die beispiellose Vernüchterung und Verrohung des reisenden Menschen vollendet und jenen letzten Rest von Ritterlichkeit und Anstand aus dem Verkehrsleben heraustreibt, den das Zeitalter der Eisenbahn und des Dampfschiffes etwa noch übrig gelassen hat.

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    Wenn die Lärmgrösse, mit der Volk und Einzelmensch sich durch die Welt bewegt, neben seinem Verbrauch an Wasser und Seife, ein Mass für die seelische »Bildung« bietet, dann sind wir im tiefsten Tiefstand der Seelenkultur angekommen. Dass aber gar die deutschen Bundesstaaten ohne Einspruch der Landtage zu unseren alljährlich stattfindenden »Herkomerfahrten« und »Automobilrennen« unsere öffentlichen Landstrassen hergeben, kann ich nicht begreifen. Es ist bisher noch nicht eine einzige Wettfahrt vorübergegangen, die nicht wenigstens ein halbes Dutzend Leben geopfert hätte. Man baue eigene Strassen, wie für die Eisenbahnen, die meist weniger tückisch dahersausen als ein Automobil. Vor allem aber zwinge man die Automobilbesitzer zu einer Haftpflichtgenossenschaft. Nach der Reichsstatistik sind innerhalb von sechs Monaten (1. April bis 30. September 1906) 2290 Automobilunfälle in Deutschland vorgefallen. Hierbei konnten in 283 Fällen die Besitzer der Fahrzeuge nicht ermittelt werden. In 17 % aller Fälle floh der Fahrer feige davon. In weiteren 3 % versuchte er zu entfliehen. 987 Sachbeschädigungen sind zu verzeichnen. 1519 Menschen wurden verletzt; 51 Menschen getötet. Dabei gibt es im Deutschen Reich vorerst nur ca. 27000 Automobile. Während die vielen tausende Berliner Strassen- und Vorortsbahnen alljährlich 27 Menschen töten, kommen allein durch 2400 Automobilfahrer in Berlin jährlich 10 Personen ums Leben. Man hat nun neuerdings den wehmütig stimmenden Plan ausgeheckt, die Lüneburger Heide in eine deutsche Automobilrennbahn umzuwandeln. Eine niedersächsische Heimatgenossin schreibt darüber Klagen, die ich so schön finde, dass sie hier stehen mögen : »Die Lüneburger Heide soll zu einer Automobilrennbahn mit grosser Chaussee, künstlichen Hügeln und Fabrikanlagen umgewandelt werden. Das Heidekraut, das in unübersehbaren Feldern blühte und aus dem der beste Honig der Welt kam, soll niedergewalzt werden; die Marschen, die sich voll so unendlicher Grazie und Schwermut zum Meere, dem deutschen Meere, niedersenkten, sollen applaniert und Gott sei dank endlich einmal mit Kies beschüttet werden; Plakate von Opel und Darracq werden die Eintönigkeit der Fläche munter beleben; Automobilgaragen, Tribunen, Restaurants, erstklassige Hotels ... und an Stelle des überflüssigen Thymians wird das sehr viel nützlichere Benzin zum Himmel riechen, in ganzen ungeheuren Wolken, und weithin von dem endgültigen Sieg der deutschen Industrie Zeugnis ablegen. Gewiss, es muss ja sein, und von rein praktischem Standpunkt lässt sich gegen die Idee nicht viel einwenden. Wenn Automobilrennen sein müssen, so ist es immerhin vorteilhafter, wenn sie in der Einöde des Nordens, als wenn sie im dichtbewohnten Süden unseres Vaterlandes abgehalten werden. In Frankreich und in England wurden die grossen Automobilhetzen — solange sie dort noch erlaubt waren — in den einsamen Distrikten, in der Auvergne und in Irland abgehalten, und unsere Rennen mitten durch den starken Verkehr Hessens hindurch waren schon mehr als bedenklich. Und dass es richtiger ist, einsames Heidekraut als Bauernwagen umzurennen, das gibt auch der Naturfreund, wenngleich zögernd, zu. Und doch, schade drum, schade um unsere Lüneburger Heide. Sie war keine Sehenswürdigkeit, kein grossartiges Naturdenkmal, etwa wie in Frankreich der Wald von Fontaineblau. Aber sie war deutsch, war alles in allem der letzte Rest unberührten und unverfälschten deutschen Bodens inmitten der mehr und mehr der Industrialisierung verfallenden Welt. Während die Kultur allenthalben siegte, änderte sich seit Urzeiten hier nichts, in der stillen Einöde zwischen Aller und Elbe und der Küste des grauen Meeres. Die Dörfer sehen heute genau so aus, wie in den Urtagen unserer Rasse, unerbrochene Königsgräber künden fort und fort von alter, grosser Zeit, und zäh hält der sächsische Stamm, der hier sitzt, an alter Sitte fest. Diesen Sachsen konnte keiner beikommen. Drusus nicht und der grosse Karl nicht und nicht einmal die Eisenbahn der neuen eiligeren Zeit; erst jetzt werden sie ihre Meister finden; jetzt werden sie nur der Einwanderung französischer Chauffeure, Berliner Terrainspekulanten und Wiener Oberkellner weichen. Der Rhein ist reguliert, die Wälder verwandeln sich in Tummelplätze, auf den Montblanc fahren Extrazüge hinauf und die Wogen des Meeres werden mit Haaröl geglättet, und der einzige Einsiedler, den ich in meinem Leben sah —, im Schlesischen Gebirge, — handelte mit Ansichtspostkarten. Wohin sollen wir Träumer entfliehen ? Vielleicht zu den Sternen hinauf ? Nein, auch zu ihnen nicht; ihre Poesie verschwand, seitdem uns Astronomen lehrten, dass auch die Sterne kanalisiert sind, wie das erste beste Rieselfeld.« —

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    Wenn man auf dem Bahnhof eines »Knotenpunktes« das Getriebe der ankommenden und abfahrenden Reisenden betrachtet, wenn man alle diese gleichmässig rücksichtslosen und kaltsinnigen Menschen sieht, wie sie in die Wartesäle stürzen, sich stossen, schieben, drängeln, auf den Stationen möglichst schnell Kaffee, heisses Fleisch, Biere herunterschlingen, wie sie in dem Pferch der kleinen Coupékäfige sich gleichgültig mustern, durch Tabak, schlechte Luft, geschwätzigen Lärm einander belästigen, — dann begreift man das Heimweh nach der Posthornzeit, der Zeit einsamen Wanderns ins »Welschland«, das deutsche Ränzel auf dem Rücken. beschauliche Fahrt durch stille verschlafene Städte, betrachtsame Einkehr und Schwärmerei, — das ist dahin. Alle Courtoisie, aller Stil des Reisens geht zum Teufel. Es ist in allen Fremdenstädten, Saisonplätzen, Bädern, Kurorten immer der gleiche Anblick. Der Durchschnittstypus ist der windige, lärmende Eisenbahnkommis, der überall »versierte«, ach so welterfahrene, ach so »gescheute« Reiseonkel. In beiden Hemisphären herrscht seine »Weltanschauung«; jene seelenlose Weisheit, die sich in Sätze kleidet wie diese : »Wein ist besser als Bier. Vergiss nicht warme Unterkleider. Brich nie dein Kapital an.« — So beschaut er seine »Welt« mit lichtlosen Augen, von erschreckender Gleichartigkeit. Ehrlich bis an die Grenze seines Vorteils; anständig herzlos; »Frechdachs« mit billigem »Gemüt«. Energisch und gewöhnlich, grossmäulig und unecht, kalt und sinnlich, und unaufhörlich in »Geschäften«. Jeder Versonnenheit, jedem Schweigen, jeder Ehrfurcht herzlich abhold. Das ist der angloamerikanische »Moneymaker«, der kapitalistischsemitische »Tatsachenmann«, der bierehrlichdeutsche »Biedermann mit Vorteil«. Diese Leute erobern die heutige Erde. Man kann ihnen eine in allen Sätteln gerechte, jedem Zufall gewachsene plattgeistige Kultur nicht absprechen. Eine Kultur, der die dritte Dimension fehlt. ...1)

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    Dieser »Kulturmensch«, der das »Kapital«, die »Entwicklung« und den »Fortschritt« beherrscht, floriert zurzeit im »Automobilsport«. Das aber stellt uns vor ein sozialbiologisches Problem. — Die gegebene Selektion geht auf Ausmerzung vieler diskreter Seelenseiten, auf Vertilgung alles Zart- und Feingefühls im öffentlichen Leben, auf Brachlegung der kleinen Rücksichten und täglich neu zu erübenden unscheinbaren Achtungserweise Mensch gegen Mensch. Im modernen Verkehr geht ein jeder rücksichtslos zugrunde, der sich allzulange unpraktischen Sentiments ergibt. Zudem scheint es die veränderte Selektion auf die bisher geübten Sinnesorgane abgesehen zu haben. Wenn ich mir den Kraftwagenverkehr auf Broadway, Oxford-Street oder Rue de Rivoli lebhaft vorstelle, dann möchte ich fast glauben, das grosse anatomische Umwandlungen dem Menschengeschlechte bevorstehen. Insbesondere dürfte sein heutiger Riechapparat ihm so wenig erhalten bleiben, wie sich grüne Hasen oder violette Rebhühner zu erhalten vermöchten. Wer das dickste Trommelfell und eine undurchdringliche Nasenschleimhaut hat, besitzt einen Vorteil im Erhaltungskampf, der die Anwartschaft gibt, Vater oder Mutter des Übermenschen zu werden. Der Gewaltsieg, den die rollende Maschine und das randalierende, rasselnde, benzinstinkende Kraftfahrzeug über die primitive Naturkindschaft des Menschengeschlechtes davonträgt, muss zu biologischen Auslesebedingungen hinführen, die sich von allen Anpassungsnotwendigkeiten der Vorwelt wesentlich unterscheiden. Zumal die Nase, die doch ohnehin, seit wir Wolf und Hund in unsere Dienste gezwungen haben, eine beträchtliche Entlastung erfahren durfte, ist für den täglichen Existenzkampf so überflüssig geworden, wie etwa der Wurmfortsatz, die beiden falschen Rippen oder das Hundeschwänzchen der Wirbelsäule. Sie ist für uns nur eine störende Erinnerung an verflossene Liebesgeschichten. Ein schlichtes verdicktes Riechhäutchen würde schliesslich auch genügen. Was aber gar das Ohr betrifft, so müsste der Darwinismus dem vollkommen tauben Menschen den Lorbeer reichen, wenn nicht die Vermehrung des Lärms auch mit Vermehrung der Lebensgefährdung durch Maschinen verbunden wäre und der anschwellende Verkehr der Eisenbahnen und Kraftmotore die rascheste Orientierung durchs Ohr vor jeder anderen Sinnesreaktion wünschenswert machte. Wie sich also das unselige Menschenohr entwickeln mag, das wissen die Götter. — Es wird einerseits seine höchste Intensifizierung [!] und Verfeinerung von Nutzen sein. Es wird andererseits diese Verfeinerung eine ewige Gefahr für die Nerven und die Gesundheit der Seele wie des Geistes umschliessen. Zweifellos aber wird die Natur ihre notwendigen Selektionen vollziehen. Vielleicht in der Art, dass sich ungleiche Gehör t y p e n herausbilden, deren einer geeignet ist, um in Berlin, im Eckhaus der Leipziger und Friedrichstrasse über die Theorie der A b e l schen Funktionen nachzudenken, während der andere mit Sicherheit überfahren und durch Nasenkrankheiten, Gehirnhautentzündungen oder »Neurosen« dezimiert wird, falls er sich zu häufig ins Zentrum einer Grossstadt begibt. — Um Mitte des 19. Jahrhunderts traten medizinische Autoritäten mit der Behauptung hervor, dass die Gesundheit des Menschen die allgemeine Einführung der Eisenbahnen nicht überleben werde. Der Kohlenstaub und der Lärm werde ihre Degeneration herbeiführen. Ja, der Mensch, der viele Tage hintereinander auf der Eisenbahn lebe, werde durch Nervenerschütterungen oder im Irrwahn zugrunde gehen. Die Zunahme der Irrenhausbevölkerung werde von den Folgen des Eisenbahnfiebers zeugen. — Aber die Menschheit hat die Eisenbahn überlebt; sie wird auch das Automobil überleben. Das Problem der künftigen Entwickelung wird nur dies sein, wie die weitere Differenzierung unseres feinsten, geistigsten Sinnes mit der kontinuierlichen, gewohnheitsmässigen Abstumpfung der bewussten Wahrnehmung zusammengehen kann. Denn die verfeinerte F ä h i g k e i t der Gehörswahrnehmung ist ebenso notwendig geworden, wie die dauernde F a k t i z i t ä t verfeinerten Wahrnehmens und Aufmerkens für uns bedrohlich ist. Man muss also die Kunst erlernen, alles zwar hören zu k ö n n e n, aber wo nicht nottut, doch faktisch nicht hinzuhören. ...Am besten kommt in der Welt vorwärts, wer viel Geräusch und Gestank aushalten und vollführen kann. — Ich kann also nur hoffen, dass die gegenwärtige Ära des Automobilsports das auf den 800pfündigen Kraftbolzen eingestellte differenzierte Töff-Töff-Ohr und eine dazu gehörige immune Benzinnase meinen Kindern und Enkeln hinterlassen wird. ...

 

4.

On entre, on crie
Et c’est la vie,
On crie, on sort
Et c’est la mort

    Das Geräusch, von dem ich nunmehr sprechen will, ist ebenso störend und peinigend wie alle anderen. Aber es wird von den wenigsten Menschen als störend empfunden und als peinigend anerkannt. ...Vor sechs Jahren veröffentlichte ich einige Aufsätze gegen den Lärm, die unter den perhorreszierten Geräuschen auch das Tag und Nacht andauernde Geläute von Kirchenglocken, (zumal in den katholischen Ländern) zum Gegenstand eines Angriffes machten. Das erregte Missfallen und Widerspruch. Ein Wiener Journal entgegnete, das Läuten der Glocken sei »Musik«; auch entspräche es berechtigter Tradition, die die Heiligung unsres praktischen Lebens verwalte. Wenn ich nun trotz dieses Widerspruchs meine Auffassung auch heute wiederhole, so soll das keinerlei Verletzung von Kirche und Religion, keinerlei Verletzung geheiligter Gefühle umschliessen. — Es liegt im Wesen einer neuen Religiosität, dass liturgische Symbole und Akte, aus dem öffentlichen Leben verschwinden, um nur tiefer in das Sanktuarium des Menschenherzens eingeschlossen zu werden. Die Glocke, die alle Stunden des Tagewerks, alle Ereignisse eines Einzellebens mit ihrem Klange begleitet, ist das Überbleibsel einer Zeit, wo tatsächlich der Einzelne in das Leben kommunaler Verbände eingesenkt war. Die Kirche konnte sich damals als einzige sozialpolitische Autorität auch in jedes Anliegen der Tagesordnung einmischen. Die Religion war noch nicht »Privatsache«, noch nicht die innerste Angelegenheit, die ein Mensch nur allein mit sich selber ausmachen kann und darf. Sie wurde autoritativ eingeengt, vorgeschrieben, reglementiert und nivelliert. Heute aber verschanzt sich hinter der religiösen Freiheit das individuellste Recht des Menschen. Ein innigeres, persönlicheres Fühlen löst die »Religion« von politischen, sozialen und sogar von moralischen Zwecken ab. — Religiöse »Sünde« und sittliche »Schuld«, Sorge um das »Seelenheil« und ethische »Pflicht«, das ist für uns durchaus zweierlei geworden. Dabei gewann sowohl das religiöse wie das wirtschaftspolitische und soziale Interesse an Klarheit und Reinlichkeit.
Was also hätte es heute für einen Zweck, wenn die Kirche ihr Hirtenamt auch auf gesellschaftliche Formen ausdehnen wollte, die nur an der Peripherie des Seelenlebens liegen, wenn sie Lebensverhältnisse bevormunden wollte, die nicht autoritativ zu regeln sind. Auf dem Lande, in ganz einfachen, patriarchalischen Verhältnissen, in allgemein gleichartigen Sitten und Lebensbedingungen, da hat es schönen, tiefen Sinn, wenn die Glocke zum Aufstehen, Vesper und Arbeitspausen mahnt, wenn sie Gebet und Tod, Gefahr und Freude, Morgen und Abend einläutet. Denn alle teilen ja beim gleichen Anlass die gleichen Gefühle. Alle orientieren sich willig an diesem Symbol. An Stätten dagegen, wo Menschen verschiedener Berufe, Daseinsformen und Arbeiten, verschiedenen Bekenntnisses und Weltgefühls eng beieinander wohnen und die Kirche viel weniger als jede praktisch wirtschaftliche Idee eine Vereinheitlichung des Lebens verwirklichen kann, da ist es störend, wenn sich Glockentöne, deren Bedeutung keiner fühlt und kennt, aus allen Richtungen der Windrose in Privatgefühle und Privatgedanken mengen. — Wo ergreift denn dieses Glockenspiel ? Irgendwo im weltfernen Weiler, aus verlorenem Kapellchen, aus einsamem Kloster, hoch oben auf dem Fels. Aber wahrlich nicht, wenn aus hundert Domen, Kirchen und Kapellen immer die gleichen niemals einstimmig abgetönten Klänge uns entgegendröhnen. — Man läute die Glocken, wenn wichtige, nationale Anlässe gegeben sind, wenn ein grosser verehrter Mensch die Stadt besucht, ein gewichtiger Gedenktag gefeiert, ein Mächtiger begraben wird. Aber die ganze Gemeinde bei jeder Hochzeit und Kindstaufe allarmieren [!], hat kaum eine Berechtigung. Es ist auch unrichtig, bei jedem vorüberkommenden Leichenkondukt die Glocken zu ziehen, da niemand, der das Geläute hört, die Veranlassung kennt, und wirklich an den Toten denkt und da andererseits die ganze Erbaulichkeit jederzeit und für jedermann gegen feste Taxe zu erkaufen ist... Dieses alles muss nachfühlen, wer nur jemals unter den Glocken längere Zeit aus nächster Nachbarschaft gelitten hat. Ich habe viele Monate neben dem Glockenturme von Klöstern und Stiften wohnen müssen, habe, zumal in Innsbruck und Südtirol, Nacht um Nacht ein meinen Schlaf vernichtendes Glockengedröhn erlitten, und in kleinen Nestern einen Missbrauch der Glocke gesehen, der so weit ging, dass man nicht nur läutete, wenn irgendwo ein Kind zur Welt kam, sondern auch, wenn die Kuh des Dorffürsten kalbte oder ein Gewitter in der Luft stand. Fast grausam ist es aber, Glockentürme oder Uhren mit Choralbegleitung und ähnlicher mechanischer Musikspielerei einer ganzen Stadt, unter deren tausenden doch wahrscheinlich auch drei oder vier denkende Köpfe sich befinden, schlankweg aufzudrängen. Solche Musikkunstwerke, solche Mechaniker oder Uhrmacherleistungeen sind hübsch und respektabel, wenn sie uns hie und da einmal an entlegener Stelle begegnen, in der Sebalduskirche in Nürnberg, im Strassburger Münster, an der Rathausuhr in Prag. Aber ein reizbares, feines Gehör, ein kultiviertes Ohr empfindet dergleichen als Barbarei, wenn man, (wie mir in Liegnitz geschah)2), gezwungen wird, neben einem Kirchturm zu schlafen, von dem Stunde um Stunde die selbe Choralmelodie seelenlos mechanisch herniederdröhnt, bis sie sich schliesslich in jede Arbeit und sogar allmählich in die Träume schiebt und die gesamten Funktionen des Organismus sozusagen auf ihren Rhythmus dressiert, den man, wofern solche Einwirkung in früher Ju gendzeit erfolgt, sicher lebenslang nicht mehr aus dem Ohre bringt. Wie vornehm und würdig erscheint dagegen der einsame Ruf der Moslem von den Minarets und Moscheen zur Stunde des Gebets, wie würdig das schweigende Anzünden des durch den Abend brennenden Synagogenlichtes, wenn die Stunde zur Einkehr kommen ist. Fast gewaltsam erschien mir, wenn in den kleinsten italischen Berg und Klosterstädten in der heiligen Christnacht oder zu Sylvester und Ostern alle Stunden ein Wald von Glocken über Kranke und Gesunde, Tanzende und Sterbende, Nachdenksame und Stumpfe dahinbrauste, einem jeden zurufend : »Höre hübsch zu. Wir wachen hier als deine Schicksalsmacht. Wir können den Schlaf deiner Nächte, die Einkehr deiner kurzen Tage vernichten, ob dich nun unsere Predigt angenehm oder unangenehm, sinnlos oder sinnvoll bedünke.« Freilich, jene Stunde, die G u s t a v F r e y t a g in den »Ahnen« schildert, war schön und gross, die Stunde, wo der erste Glockenlaut über deutsche Lande dahinzog, denn Glockenklang und Sichelklang sind die heiligsten Klänge der Menschheit, Klang ihrer Andacht und ihrer Arbeit. Zweifellos gibt es Uhren, Türme und Glocken, deren Ton das Herz eigen beruhigt, wie Botschaft einer ganz anderen Welt, die in das Gebrause und den Graus dieses empirischen Wahnsinns nur zuweilen von Ferne hineintönt. Ihr gilt dann die Strophe des Dichters : »Der Turmuhr grosser voller Stundenschlag hat zu Matrei mich wieder Schlaf gelehrt«. Andererseits aber wäre gar wohl zu bedenken, dass das ursprünglich Öffentlich-Allgemeine, Geburt und Taufe, Hochzeit und Tod, immer mehr jener Sphäre der D i s k r e t i o n anheimfällt, die alles Privatleben einhegen muss, wenn nicht in wachsenden Grossstädten, wo Menschen wie Ameisen übereinander krabbeln, »Gesellschaft« und »Öffentlichkeit« zur unerträglichen Tyrannei entarten soll. Wäre dem nicht so, dann wären das Ideal jene Glockentürme des Campanella, die in der vollkommen sozialisierten Gesellschaft den Menschen sogar das Zeichen geben sollen, wann es Zeit ist, »in Gott Kinder zu zeugen«, oder wann sie Kunstwerke betrachten oder ihr Tagebuch führen sollen. Man bedenke also wohl, dass gerade der vertieften und innigeren Religiosität der Lebenshaltung das veräusserlichte Symbol und das Ausplaudern aller persönlichsten Ereignisse unkeusch erscheinen muss. Der Glockenschrei gebührt dem nationalen und kommunalen Anlass, nicht dem kleinen, alltäglichen individuellen Leben, das seine Heiligung im Gemüte findet und keiner politischen Sanktion mehr bedarf. Man hänge nicht alles »an die grosse Glocke« und denke : »Die stillsten Worte sind es, welche den Sturm bringen; Gedanken, die mit Taubenfüssen kommen, lenken die Welt.« Welch Widersinn liegt in dem Bemühen, Menschen durch Lautheit zur Erbauung, durch Lärmen zur Einkehr zu bringen ! Die Religion verwendet damit zwar nur jene primitiven Mittel der B e t ä u b u n g, in denen die gleichen Triebkräfte wirken, die auch sie selber seelenmächtig machen. Aber sie verleugnet ihre Entwickelung zu Verfeinerung und Vergeistigung. — Darum hat das Vorgehen jenes Mannes meine Achtung, der in einem Alpendorfe für Gemeinde und Kirchenvorstand eine beträchtliche Geldsumme gestiftet hat, wofür sie sich verpflichteten, im Sommer während seines Dortseins alltags keine Glocken zu läuten. — Schliesslich möchte ich anregen, dass auch der Schlag der Turmuhren eingeschränkt werden möge. Ich sehe nicht ein, warum sie heute, wo auch der Ärmste eine Taschenuhr besitzt, jede Viertelstunde durch einen Schlag andeuten müssen; es würde genügen, wenn sie lediglich die vollen Stunden ausrufen und zwar jeweils durch einen einzigen Schlag, nicht aber etwa durch sechszehn. Der Umstand, dass dies genügt, ist Grund genug dafür, dass es geschehe. —

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Die nächste Ausgabe des Salmoxisboten wird den Abdruck des vierten Kapitels, darin die »qualvoll störenden Lärmgeräusche, die aus dem Zusammenleben mit Haustieren erwachsen«, das »grauenhafte Gelärme des Teppich-, Polster- und Bettenklopfens« sowie die »grauenhafte Unsitte« musikalischen Dilettierens abgehandelt werden, beenden.
Kapitel Eins dieser epochal vergeblichen Kampfschrift, die sich streckenweise noch großer Zurückhaltung befleißigt, widmet sich der Psychologie der Betäubung. Kapitel Zwei heißt Lärm und Kultur. Das dritte Kapitel ist getitelt Die Empfindlichkeit des Ohres, das fünfte aber fragt umsonst nach dem Rechtsschutz wider den Lärm.
Die Zählung innerhalb des Kapitels Geräusche setzt im Erstdruck von 1908 einmal aus. Die Redaktion des Salmoxisboten möchte meinen, das von konsekutiven Seelchen vermißte ›3.‹ gehöre, wenn es den wirklich fehlt, unmittelbar über den Passus, der sozialbiologische Konsequenzen betrachtet.
Gellquietsche übrigens : ein Jahrhundertwort.

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1) Eine besondere Sorte des Reiselärms möchte ich wenigstens in Form einer Anmerkung gerügt haben, ich meine die grauenhafte Unruhe in der Korridoren der Gasthäuser und Hotels, die das Reisen zur Tortur macht. Und doch wäre ein grosser Teil dieser Hotelgeräusche bei gegenseitiger Rücksichtnahme wohl vermeidbar ! So fand ich z. B. in einer Stadt mittlerer Grösse einen Gasthof, in dem keinerlei lautes Läutewerk in Gebrauch war, sondern von jedem Zimmer aus ging ein Haustelephon zur Portierloge. Der Portier nahm alle Wünsche der Gäste in Empfang und vermittelte sie durch stummes Signalwerk weiter an Stubenmädchen, Hausburschen oder Kellner. — Ich will an dieser Stelle auch eine Unsitte erwähnen, die einer ganz anderen Sphäre von Lärmstörungen zugehört : das »Beifalltrampeln« mit den Füssen, wie es noch überall auf Universitäten üblich ist. Durch dies Scharren und Trampeln wird unnütz Staub und Schmutz aufgewirbelt, so dass die Unart nicht nur das Ohr schikaniert, sondern schlechtweg hygienisch gefährlich wird.

2) Es möge zu Ehren der guten Stadt Liegnitz vermerkt sein, dass inzwischen ihr furchtbares Glockenspiel in den Nachtstunden zwischen 10 bis 6 Uhr abgestellt wurde.