Fritz Gross : Diderot

Der Turm, der Turm, vier Schritte vor, vier Schritte zurück, im Kreis drohen die Mauern. Schmale Luke, drunten, in Sonne, das Land. Rauscht wo ein Feuer, schürt der Henker die Glut ? Unten, irgendwo, brennen Bücher, seine Bücher, der Scharfrichter schürt das Feuer. Ist er rechtlos, ist er ein Tier ? Gibt es keine Gerechtigkeit ? Gerechtigkeit ! Schal ist das Echo im Turm zu Vincennes. Gerechtigkeit. Gerechtigkeit ! Den Schreienden wird niemand hören. Der jedes Papier beschreibt, jeden Zettel bekritzelt, jeden Buchstaben verschlingt, wie einsam ist Denis Diderot ... Immer stand in seinem Leben ein Turm. Immer war er ein Gefangener, immer lasteten auf ihm Buchstaben zweier Jahrtausende, mahnten, forderten, drängten : »Vergiß uns nicht ...« Unten krochen Bauern hinter Pflügen, arm, verlaust, hungrig, jede ihrer Furchen war eine Zeile : »Vergiß uns nicht ... !« In der Luft die Vögel, Lerchen und Raben, sie riefen : Vergiß uns nicht ... !« Oeffnet sich dem Verbannten das Tor. Leer, einsam und wieder von vorne beginnen. In einer Klause vergraben, bei Freunden ein Fensterplatz, bis in die sinkende Nacht, schreiben, schreiben, schreiben. Auch Schreiben ist ein Schreien. Wo das Echo besteht, wo die Zeile nicht verweht, wie die Furche in grünendem Feld, wo jedes Wort hämmert, wo jede Silbe mahnt Écrasez l´ infame ! Irgendwo auch an einem einsamen Tisch, blutet Voltaire, irgendwo schuften Rousseau, Alembert. Etwas soll entstehen, größer und weiser als das Buch der Bücher : die Bibel unserer Zeit. Jedes Unrecht, das geschah, soll uns mahnen zur Tat. Jedes Uebel, das die Welt verseucht, soll Euch rufen, aufrufen zur Tat ! Zwanzig Jahre, Kinder, was wiegen zwanzig Jahre in einem Leben, das den Scheiterhaufen sah und den Turm zu Vincennes. Sie arbeiten, sie schreiben, schuften, Sklaven des Schreibtisches, an die Galeeren der Feder geschmiedet. Es gilt, eine Welt zu verändern ! Es gilt, eine Welt zu gewinnen ! Denis schreibt über Gewerbe, Kunst, Medizin. Es ist noch so viel zu sagen. Zwanzig Jahre, wie wenig. Nun ist das Werk zu Ende. Die vom Schreibtisch aufstehen, sind keine Jünglinge mehr, keine Männer. Es sind Greise, weißes Haar unter gepuderter Perücke. Müde, verbraucht. Bettler. Keiner kauft die Encyklopädie, man lacht : »Was soll uns, was hilft uns ein Lexikon.« Denis ist müde. Die Schulden drücken. Wer kauft Bücher, meine Bücher, meine Bibliothek ? Eine Frau kauft sie, eine Kaiserin, Katharina, 15000 Livres, und mein Freund darf sie benützen auf Lebenszeit. Fährt, um zu danken, in die ferne Stadt im Norden, erlebt das Wintermärchen Petersburg. Bälle, Feste, Gelage, Farben, Lachen, Feuerwerk. Welche Pracht, welches Elend ! Und immer müde. Heimkehr, in Frankreich sterben. Heimkehr, wieder an die Galeere geschmiedet, Romane, Theaterstücke, Zoten, Schweinereien, Anekdoten. Um zu leben. Wie sie leben, so schreibt er, er befriedigt ihre Bedürfnisse, er, Diderot, Prophet einer neuen Zeit, als Zuhälter von königlichen Gelüsten. Tiefer Ekel. Die Feder schreibt wie von selbst. Er schämt sich. Schreibt. Grinst. Das Grinsen Voltaires, das Lächeln Molières, tote Seelen, Sklaven, zum Leben, zum Grinsen verurteilt. Und tiefer wird die Müdigkeit und fester wird der Schlaf, der nicht mehr hört den Ruf der Millionen »Zur Bastille !«. Tiefer der Schlaf, einsam der Tod in einem kargen Zimmer im großen Paris.

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