Ist diese Linie richtig ? Ja, sie ist richtig.             Josef Stalin
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Nr. 1 lebt — Das Interview

... und dann geschah das Unglaubliche. Am Telephon der Redaktion des Salmoxisboten in jenem ölig-soziolektgefärbten Tonfall, wie er nur einem einzigen Menschen auf der Erde eigen ist, die Worte :
     »Ja Potzteufel, kann man denn nicht einmal in Ruhe tot sein ? Hier ist Koslowski, in Gottes Namen«
     »Meister ?« fragte die Diensthabende Botin bebend und bewegt. Durfte sie ihren Gefühlen nun freien Lauf lassen oder mochte es sich etwa nur um einen üblen Scherz handeln, verübt von der ruchlosen Delmenhorster Journaille ?
     »Wir müssen uns treffen. Einiges ist ins falsche Licht geraten und ich muß für kurze Zeit wieder unter den Lebenden weilen. Aber strengstes Stillschweigen. Wir wollen doch die Dinge ruhen lassen. Treffpunkt noch heute abend um 6 am McDrive an der BAB-Abfahrt Delmenhorst-Mitte«
     Mit BSAG und Delbus war es kein Problem, rechtzeitig um 6 Uhr am McDrive zu sein. Es dauerte auch nicht lange, bis unter den bewundernden Blicken der sonst doch so dumpfen Delmenhorster Jugend ein schwarzer Dodge-Van mit Breitreifen und getönten Fenstern auf den Parkplatz rollte. Nationalitätenkennzeichen PY, was mag das sein, dachten diese jungen, stumpfsinnigen Geschöpfe sicher. Wir jedoch erkannten sowohl das Kennzeichen als auch den drahtigen Greis auf dem Fahrersitz : Attila von Wieder, Held aller Kriege seit 1914, Freund aller Diktatoren und Feind jeglichen Unrechts.
     Die Schiebetür des Vans öffnete sich elektrisch und die wohlbekannte Stimme tönte aus der ledernen Sitzgruppe im Fond des Fahrzeuges, bei dem es sich offensichtlich um ein ausgeklügeltes Wohn- und Konferenzmobil handelte. Wir kletterten hinein und saßen ihm gegenüber. Ihm, Waldemar Koslowski, unserem totgeglaubten Meister. Er sah gut aus, keinen Tag älter als 60 hätte man ihn schätzen mögen. Taubengrauer Flanell, weinrote Seide, weißer crêpe de chine ... auf einen Zuruf Koslowskis setzte sich der schwere Wagen fast lautlos in Bewegung. Aus den unzähligen wattstarken Lautsprechern plätscherte The Girl from Ipanema von João und Astrud Gilberto.
     WK : »Wir werden besser im Fahren reden, es ist sicherer ... ich denke, ich bin euch eine Erklärung schuldig ...«
     SB : »Aber iwo, keineswegs, mitnichten !«
     WK : »... nachdem ich beschlossen hatte, Delmenhorst für immer zu verlassen, dachte ich mir natürlich : wie bewerkstellige ich das ?«
     Draußen fegte die verregnete Landschaft vorbei — auf einen Knopfdruck drehten sich die Lamellen der Vorhänge und sachte gingen verschiedene sanft getönte Lichter im samtenen Himmel des Fahrzeuges an.
     WK : »Heiner sah also eines Tages, wie irgendein Schwein, wahrscheinlich von den Bullen, Ina beim Waschen zuguckte. Mit einem Fernglas. Attila fragte, nachdem ich davon erfahren hatte, ob er dem Jungen nur die Arme brechen oder ob er ihm richtig wehtun solle. Ich meinte, nein, das machen wir ganz anders. Daß der Typ weg muß, ist klar. Wir sind schließlich, wenn man so will, die Köpfe einer Terrorbande und können keine Beobachtung, möge sie in diesem Fall auch nur der Minne dienen, gebrauchen. Na ja, eines Tages schnappten wir ihn und wollten, nachdem wir noch in aller Freundschaft einige Glas mit ihm getrunken hatten, ihn mit meiner Dax nach Huchting schicken — nach mehr Bier. Nun, und auf dem Wege scheint er verunglückt zu sein. Und da man ihn für mich hielt (denn mein Aussehen war in Delmenhorst nicht sehr bekannt — ich pflegte, wie ihr wißt, stets falsche Bärte, Toupets und dergleichen zu tragen), war es für mich und Attila ein Kinderspiel, das Land zu verlassen und in wärmeren Gefilden als ausgerechnet Iprump zu siedeln«
     SB : »Wo wart Ihr während der über 23 Jahre, die seit Eurem Tode vergangen sind, Meister ?«
     WK : »Oh, wir waren eigentlich fast überall. Dann natürlich auf Kuba, das sogar bis vor einigen Wochen, als uns Karol besuchen kam«
     SB : »Karol ? Der Papst kam Euch besuchen, Meister ? Nicht Fidel ?«
     WK : »Doch, Fidel hat er auch getroffen. Ich gab ein Essen und bei der Gelegenheit trafen sich die beiden. Schlecht war nur, daß man uns alle zusammen gesehen hat«
     SB : »Meister, es scheinen Euch unbeschränkt Geldmittel zur Verfügung zu stehen. Woher kommt das Vermögen, das Euch dieses jahrzehntelange Versteckspiel erlaubte ? Weshalb gehört Ihr außerdem zum geheimdiplomatischen Jet-Set, Ihr, die Ihr uns doch damals die Bescheidenheit predigtet ?«
     WK : »Ganz, ganz, schlechte Frage. Nächste Frage«
     SB : »Wann werden wir die Große Kommentierte Mao-Konkordanz in den Händen halten ?«
     WK : »Kommt auf euch an. Sie ist sehr teuer«
     SB : »Ist sie fertig ?«
     WK : »Ja«
     SB : »Ist sie groß ?«
     WK : »Hör mal, Mädchen. Gegen die GKMK ist die Bibel ein Einkaufszettel und das Werk Arno Schmidts eine flüchtige Notiz im Weggehen. Gegen die GKMK ist die MEGA ein Reclambändchen und Lenins Werke gleichen dem Telephonbuch von Delmenhorst«

Fortsetzung folgt 1

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1 Hier bricht der Text ab, den Michalina dem Boten als Laserausdruck über die unabgewaschenen Kaffeetassen gelegt hat. Der Bote wußte bisher nicht, daß Michalina einen Begriff wie Das Unglaubliche oder Worte wie Journaille, Nationalitätenkennzeichen oder daß mit ß kennt. Und der Bote wäre nicht der Bote, besäße er nicht exakteste Kenntnis der Charakterprofile seiner Autoren, Leser und diensthabenden Praktikantinnen, allgegenwärtige Vorabdrucke sozusagen der GKMK bezüglich seines eigenen Dunstkreises, verfügte er nicht über mächtige, in höchstgesicherten Archiven, ehemaligen Pilzplantagen in unbekannten Bergwerkstollen und Bunkern gelagerte Dossiers, die er nach Belieben angucken könnte und die zu warten, zu verbessern, auszuschreiben, auszumalen und zu vergessen er überlegt, der immer diensthabenden und immer mehr überforderten Schülerin Michalina K. aus Delmenhorst, amtierende Miß Germany — in der Version der Miß Germany Corporation Oldenburg (sic !) — eine zweite Kraft an die Seite zu stellen. Michalina ist eine wunderbare Diensthabende und Kaffeeköchin, und ihr Butterkuchen wird sogar in Findorff gerühmt. Als Journalistin, vielmehr knallharte Rechercheurin gar, ist sie uns allerdings nicht im eigentlichen Sinne geheuer. Warum war sie betrunken bei ihrer Rückkehr von diesem angeblichen Interview ? Und warum unberührt, obwohl angeblich im selben Auto wie Attila von Wieder ? Und war Koslowski, alter Freund sowohl Heitor Villa Lobos´ wie auch Attila Zollers, nicht unerbittlicher Kritiker der Musik aller Gilbertos ? Nicht so Fräulein K., die in dem Zimmer, das sie bei ihren Eltern bewohnt, eine Fototapete mit Palmen und Sand und Kokosnüssen anguckt. Wir wissen auch das. Wir bitten das alles zu bedenken und bleiben gewohnt skeptisch.

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