Ist diese Linie richtig ? Ja, sie ist richtig.             Josef Stalin
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Aus den letzten Aufzeichnungen

zur Almatastraße

rod plau krün


in dieser elend langen Straße haust ein sterbender Spätherbst. Er vollführt sein Tun nach Art wahrer Souveräne : ohne Ansehn der Person. Sind sowieso nur zwei unterwegs, ein Kind und, gegenläufig auf der andern Straßenseite, ich. Das Kind lacht nicht. Das Kind geht allein, Schritt für Schritt. Es kann das schon, es kann das noch, es könnte deines sein. Sein Rotz läuft auch. Gehaar zwirbelt im bittren Sturm und jeden Windstoß trinken Strähnen von der Nase. Die Jacke des Kindes ist herzgrau und viel zu dünn, der Schal pfirsichkorall in groben Maschen. Zwei Kinderaugen kämpfen sich durch den unwirtlichen Nordost, die Tränen sind daher warum hast du das getan warum hast du das getan warum hast du das getan ein Kind in die Kälte gesetzt, nicht für Zimtsterne gesorgt, für mollige Butzen und warum hast du den Ballon in den Himmel steigen lassen, diese blöde Tüte Helium, Mister Kunis, Mister Kunis, zwei Schreie dem farbenfrohen Plastikpapagei hinterher, gebe Gott, Kind, dein Schmerz ist geringer als der meine war               die andere, ich, ich lache auch nicht, und ich bin auch keine Begleitung. Ich friere und starre in dem Winter, der mich umgibt. So eisern mein Himmel ist, so steinern bin ich — das war Hölderlin, nicht wahr ? Der natürliche Zustand des Menschen ist einzeln
     ich atme, und dann durchstoß ich die fasrigen Ballen vor meinem Gesicht

mein armes Leben      das geht auch kürzer

     Ich hab keine Angst. Denn ich rede nicht von ihr. Noch richte ich an sie das Wort. Ich rede nur mit dem Unerbittlichen — sprech nur von meinem Löwenherzen
     Wenn ich mich aber doch mal Fremden gegenüber erkläre, dann nur anläßlich gewöhnlicher Ausnahmen. Etwa gestern abend im Rinnstein Glücksburger Straße. Dort gabs für mich reichlich, nebst dem schönen Straßennamen dreierlei : ein Ostrakon Chips, das sehnsüchtig die entschieden vorgehende Sohle erwartete oder den kühnen Dunlop, aber — und da stand ich mit verzogenen Kündwinkeln prophetend einen Fußtritt nur fern und sagte den gewürzten Kartoffelscherben ungefragt alles freiheraus — bloß zu gewärtigen hätte, daß es ohnmächtig würde mitansehen müssen, wie es langsam aufweiche und die Knusprigkeit von ihm ließe, ja, mein Liebes, kein Crunchen wird mehr sein, nur noch Matsch.
     Zehn Jahre Bann. Ach, mehr als das Doppelte hab ich schon hinter mir und keinen, der mir sagt, ob ich mein Gesicht darüber verlor

     Daneben lag das Leichentuch des Gerichts, vorbeigeworfen, zipfelgeknüllt und halbzerfasert : vom Munde einer schmucken Dame, einer Pommeshure : eine Serviette mit blaßblau kretischem Muster, schmissig werbendem Schriftzug, Lipstic und Tomatenmark. Die besten Momente schon gelebt. Beigesellt bar des Zusammenhangs eine aufgetrudelte Rolle Garn ... ein Kosmos in nuce ... in Vollendung ...
                                   ... j´adoube, viererlei : fünf Meter weiter Richtung Sonderburger Straße im Schatten nächtlicher Steine ein Conphilister, ein wollmantelner Mann, der mich, oder was er dafür hielt, wenig verständnisinnig anglaste und ausgelaugtes Silbenähnliches in die Welt stieß und fiebern stirnglänzte. Das kommt davon, wenn man Wohlfahrt pädagogisch versteht und Nomaden bei Nieselwetter ohne Kompaß draußen läßt. Sie stürzen dann bei leisester Gelegenheit kopfüber Richtung Kaaba und beten schwarze Meteore an. Was sich, streng genommen, nicht gehört. Übrigens verstand ich ihn auch nicht. Nicht, warum er nicht auf einer Fußbodenheizung in einem komfortablen Heim lebte und nicht, was er lautmalte.

Ich stieg über ihn hinweg, ganz der faire Spieler, der ich bin, und sah zu, daß ich sein Delirium nicht behelligte. Fast, daß ich es streichelte. Das hab ich nun davon ... immer noch keinen Erkenntnisaufschluß ... und immer noch keine Angst. Meine Rhagaden schmerzen unverschämt. Das ist schön von ihnen, ein Teil von mir wenigstens tut, was er soll ...

     die Nadel sticht, das Scharnier rastet

     Sonne zuckelt, ein strahlender Muskel, ein herrenloser Traktor auf ödem Feld. Gedunsene Harfen hängen fleddrig im Azur, Vögel ziehen als Karbidenden der Schenkel unbekannter Zirkel Mikrometer über unbekannten Oberflächen dahin — geschweige denn, daß er von der Zerstreuung kurzwelligen, mehligen Blaus Kenntnis hätte : der hartgesottenste Phantasmagor könnte sich nichts in den verpumpten Wasserdämpfen denken, wüßte nichts zu sagen zum Flug der Tiere. Angenehm
     Keine Nebensonnen
     Es ist, was es ist, und nichts, was ich denk
     Eine Faust in hinhörender Niere — ist das wahr ? : ich nähere mich Zuständen, die an die Gewißheit erinnern, mit der ich als Kind mich schlafen legte und unbedingt für den nächsten Morgen die Erfüllung eines lächerlichen Wunsches erwartete : und ende unwillkürlich bei Slogans, die Esel Fried populär gemacht hat ? Es ist, was es ist ! noch ein Bedenken gegen die Schöpfung. Genauer : gegen den ersten assertorisch urteilenden Satz, den Gott sprach. Wars nicht sein erst zweiter überhaupt ?
     Götterlallen, bin ich halt nachsichtig. Nämlich ich,
     Ich stehe mit Thaumatrop und Cyanometer bewehrt auf dem Dachgarten.

Heute morgen ... nun : ein frischer Morgen. Alles direkt vom Erzeuger. Der himmlische Bauer hatte sich nächtig ins Zeug gelegt, die Welt strotzt zu meinen Augen : ein aufgeräumtes, gutgelüftetes und saubergesaugtes Kinderzimmer : ein thomasentgangener Gottesbeweis. Der Bauer hatte Tau regnen lassen, sorgsame Araber — ja, wir müssen schon wieder raus — in den Uniformen der bremer Entsorgungsbetriebe bestellt und die Gnaden nach hinten gelegter Pünktlichkeit und unübertriebenen Vorgehens über sie gegossen, heckenscherende Gärtner geschickt und fleißige Bäcker und Mitglieder anderer ehrwürdiger Branchen und unwilligen Leuten, die nicht zur Arbeit fuhren, das Geschenk karopapiernen Einparkens und nichtbetriebsbereiter Heimwerkerbänke gemacht. Möwen singen dazu brünstig das Landmannslob. Alles gut. Ich lebe gern schreit das Herz eines jeden Töffels und pflichtet Philip Morris bei. Im Rundfunk senden sie jetzt schon wieder seit pausenlos Blasmusik und überschlagen sich Stimmen vor Munterkeit und Tagwitz, prügeln müde Scherze wie Hämmer Nägel und finden kein Ende und ist alles krumm, schief und verbogen. Unbarmherzig. Zu was wer nicht alles fähig ist ! Immer noch weiten sich meine Kapillare wie zu Kinderzeiten, als ich mich für Quizkandidaten schämte und für Masterpeinlichkeiten und vertrauliche Titulierungen, für die Mißgeburten, die ihren mißgebornen Göttern in der Schlagerparade bühnenhin eilten, ein Büschel Rosen in der Hand, einen Sekretschmatz in der Hose. Das ist ekelhaft und ist. Wie gern würd ich älter. Lieben Freunde, Sie sind der Meinung, das war ...
     Eine einzige Zumutung
     Sommers waren meine Augen noch leistungsfähiger gewesen : auf der Straße, im Sitzen : smaragdflügliges Geschmeiß dippte sich in hündischen Nachlaß ... ein Mann, tonnenmal schwerer, tausendmaltausend höher, trat vorbei, irritiert und machte sie schwirren ins ... damals wars Saphirblau.
     Ich sollte besser Angst haben und schlechtere Augen. Die Welt aber wills nicht anders und ist voll Guter Geister, und ich will langweilig sein und gerecht. Ständ ich nicht schon hier, ich stiege spätestens jetzt gedankenschnell auf den Dachgarten und schallte mein mächtiges Nihil obstat, mein Häckchen unter die Hausaufgabe Welt — ganz der Tribun niederer Belange.
     Fehlt noch, daß die Stenderhoff Wäsche henken und mir herzige Mitteilungen mitteilen will. Sieht auch immer schlimmer aus, Sackgesicht das. Soviel zur Wirksamkeit von Oil of Olaz und wie Mascara doppeltes Wimpernvolumen verleiht.
     Halbschläfern, aus Unerfindlichkeiten heraus, die in Traumwüsten würzeln mochten, hatte ich das Küchenfenster gekippt : darum wußte ich das, das mit dem Morgen und so. Ganz öffnen ließ sich das Fenster nur um den Preis, daß es sich aus der oberen Angel hebelte — ich wußte schlau auch das, von früher noch, und versuchte weder mein Glück noch den Gott der Anderen. Daß nämlich die Geschichte mit dem Versuchen selten klappte, schien mir vom Feinsten menschlichen Intelligibilierens, trotz daß ichs auch von früher noch wußte, aus den zwei Sitzungen Konfirmandenunterricht, die ich genoß : irgendwo stands dünndruck geschrieben in einem dicken Buch voll beklemmender Ideen, aus dem ich aufsagen sollte. Aber Matthäusviersieben und Beklemmungen wollte ich damals noch nicht. Ich wollte damals lieber ... ich weiß nicht mehr. Umso sublimer war heut morgen : verhaltene Körkchen kalten Erwachens tickelten über meine Backen die Schläfen lang. Die vereinsamte Schlampe aus dem Fünften dudelte ordentlich und standesgemäß ihre Beverly Craven, Nötchen um Nötchen drang an mein Ohr. Ich schloß also das Fenster wieder und rieb die geronnenen Schlafkondensate aus den Augenwinkeln, betrachtete die kostbare Alu-Intarsienarbeit, die als freigeistige Spüle Dienst tat und viele Kilo Kaffeesud trug. Zermahlene Kaffeebohnen müffelten feucht und ließen sich einen Flaum in Erbsenmetallic stehen.
     Also nahm ich das Angebot des Bauern an und trat formulierungsfrei einen fiktiven Verdauungsspaziergang an. Stenderhoff rief mir aus ihrem Küchenfenster zu Ist es nicht eine Lust ?, ein schweres Steatoblepharon hockte ihr über den senkrechten Glabellarfalten, s´ist Ich, s´ist Ich, Frau Stenderhoff, dachte ich zurück, eilig, denn die Skins gegenüber waren schon unterwegs zur Gestapo-Gala. Eickedorfer Straße dann ein Skandal : ein Lastauto, zugelassen auf die Mafia vom Recycling-Hof, spie auf meiner Höhe Tamilentiger aus. Gerührt ging ich weiter. Doch die Muselmanen griffen sich loses Altpapier, das obenweg Wurst anpries, und schleudertens auf die Tragfläche. Ich dachte : einmal ist einmal, schlimm genug, aber : lauf ruhig weiter. Noch sah ich nicht die teuflische Koinzidenz. Aufladen und Vorfahren zum nächsten Häuflein dauerte nämlich exakt an Zeit, was mich meine Wegstrecke zu Fuß kostete : als ich am nächsten Bündel Papier, diesmal adrett geschnürt, anlangte, hatte mich der Lastwagen eingeholt, spie wieder, ließ sich bespeien — über einen geschlagenen Kilometer aktualisierte sich neunmal eine unverständlich lärmende Hölle neben mir. Ich war fasziniert vom Bösen und unfähig, in eine beliebige Straße auszuweichen, die mich genausogut ins Ziellose geführt hätte. Unschöne, beschwerliche Neigung, wissen zu wollen, ob ausrechenbare Sachverhalte wirklich wahr sind. Sind sie nämlich, und das sowieso.
     Gestern erst die Tenöre des Schreckens und Moderatoren mit fescher Gewißheit. Auf dem Fernsehbildschirm hatte sich das Gesicht von Thomas Koschwitz eingebrannt. Der ist hin. Der letzte Sommer war nicht besser : über mir damals : paragliden fallsüchtige Insekten. Dann ein Fußweg : ich will an einem Kerl vorbei, der auf einem Rad hockt und mittels Hand an Zaun wundervoll ein äquilibristisches Kunststück tut, und als ich ihn mit der Nase hätte stupsen können, spricht Kerl eine mutmaßlich hinter mir schleichende Person an : Willst du mich besuchen ? Ich zucke zusammen. Auch das zuviel. Dabei ekeln mich Menschen, die vernehmlich auftreten. Seit letzten Sommer erst ekelt mir noch mehr vor denen, die nicht darauf achten, wer ihr Gebrabbel mithört. Das ist ein Fortschritt.
     Ich bot dem Leben Remis an                   Junge, guck aufs Brett
     Ich bin ungemengte, ungeschmälerte, unverdorbene Angst, ich bin das Entsetzen vor dem Windhauch, dem Limonenduft und dem Geruch fremder Hirne, ich bin die Lähmung vor dem Ich ... ich bin das blanke ... das Blanko, das das Geschehenlassen unterschrieben hat, ich bin die Hilflosigkeit des Wortes vor dem Gegenstand als auch der Bedeutung. Dabei bin ich nicht weinerlich. Meine engsten Freunde bestätigten das.

     Irgendwer hatte irgendwann eine Meinung : hier soll eine Fußgängerzone hin. Nun ist hier eine. Ein Trottel jongliert drei Südfrüchte und ist mit roten Lippen bemalt und Backen und geweißtem Rest. Hat der sein Gesicht verloren ? Ein Trottelkollege tanzt dazu. Sehr harmonisch, schmeichelnd. Gott ! ich gärtner meinen inkonzilianten Haß auf Tanz und Pantomime. Täglich gieße ich, rupfe das Unkraut der Nachsicht und tilge die Läuse der Versöhnung. Grad mal eine mäßige Metapher fürs Umhergeworfensein unbelebter Dinge. Tanz ist schwerste Verfehlung, schlimmer noch als gemeinschaftlich begangenes vorsätzliches Singen, aufgesetzte unbegründbare Lust am Wahn in extravaganten Gesten in Lenor : als ob nicht alle Bewegung erstürbe, als ob nicht unverrückbar Verdammnis hinge über jedes Regen, als ob es für die Kandidaten der Gaskammer des Lebens nicht anständiger sei, nicht aufzufallen durch rituelles henkerverehrendes Gezuck. Dieser Liebe Gott ist der Master eines Ratespiels, in dem jeder drankommt und in dem keine Antworten sind, auf keine der einen Frage, dieser Liebe Gott hechtet drittelganz auf die Bühne und macht alles kaputt, was drei Pfund entzündetes Hirn sich zurechtgelegt hatten, und in der Regie sitzt er drittelganz und bestätigt sich schnurlos aus dem Off und in der Ehrenloge sitzt er drittelganz als Experte und nickt seine erste Einschätzung ab und ein verpufftes Nichts ist vor ihm jedes menschliche Aber. Und er hat ja recht. Unanfechtbar blinkt die elektronische Anzeige eine beliebige Anzahl von Nullen und lautet das Gesamturteil Sie sind draußen. Aber warum hüpfen die Examinanden, die joculatores domini nichtvonpeitschengetrieben auf die Bretter und schwingen seelenlosbeseelt Körperteile, verzückte Lemminge im Großen Unterhaltungsballett, wo doch nichts die Lebensfreude, das Vergessen im stummen Tanz, das kunstlose Zelebrieren der Langeweile, das wortlose Bejubeln von Gefühlstiefen vor der Wirklichkeit des Grabes sechs Fuß unter und über der Erde frommt ? Den Schuh müssen sie sich anziehen : Tänzer sind würdelos. Sie feiern den Kirchentag der Seele, tragen sich mit Einkäufen im Markt der Möglichkeiten, tragen Isomatte Rucksack und Spaß mit kurzem a unter der Stirn und überlegen gern, wenn sie in Zügen sitzen (das nämlich eine weitere ihrer Leidenschaften und sie nennens Tanz der Schienen) und zu Treffen rattern, wo eine Unmenge Leute vielgestaltig eine einzige Leiche anbeten, was Kirche ist ... Bewegung, zumal öffentliche, ist Mißgeschick und Anlaß zur Scham. Einer der Schlegel sagte, das Oberste sei das Schamhafteste. Jede Bewegung ist Irrtum und gehört unters Schafott des Geschmacks. Auf dem Weg der Gerechtigkeit ist Leben. Das ist auf jeden Fall schon mal falsch.
     In der Aura des Cometen : eine Mutter zerrt ein greinendes Kind über den Zebrastreifen — es scheint sich zu fürchten vor der amerikanischen Irakpolitik. Dann bietet mir ein Fräulein, das surft auf der Welle beruflichen Fortkommens, Käseproben im Comet an und liest ihren Text (Möchten Sie probieren ?) vom Teleprompter — mit Hinweis auf meinen akuten Magen-Darm-Verschluß lobe ich zwar ihr freundliches Ansinnen, lehne aber dankend-lächelnd ab, leider, dann endlich bin ich da, wo ich sein wollte : mir ist schon lange kein Mißgriff mehr bei der Wahl passender Filtertüten unterlaufen. Was ist los ? sollte meine Überlebensfähigkeit sich entscheidend verbessert haben ?

     Ich denke darüber nach, ein gebärwilliger Säuger spreizt zu einem Lächeln die Lippen und die Lautsprecher hinter der Wursttheke machen wohltemperiert u u u u, I wonna make love to you. Gesang der Haxen. Tote Animateure.
     Jeder Schwan stirbt von allein.
     Was halte ich von der pharaonischen Beschneidung, von blutschreienden kleinen Mädchen, die ihre Mutter einklagen, die aber in ihre schönsten Tücher gehüllt neben ihnen sitzt und stolz die Hand des Kindes hält — ich denke davon dasselbe, was ich vom Glücksrad denke : es leben nur finsterste Riten und ist das beste, möglichst schnell auszuscheiden aus dem erbärmlichen Spiel und die eigenen Tränen, wo fremde schon so unerreichbar sind, letztgültig zu trocknen.
     Mein heruntermodulierter Denkbetrieb schüttelt ein weiteres Resultat aus : nein. Wahrscheinlich liegt der schöne Erfolg nur darin begründet, daß ich keinen Kaffee mehr trinke. Dafür liegt Iris Berben an der Supermarktkasse aus, zahnt und lippenstiftet mich an. Kein Depp kauft sie, obschon sie so rollig posiert. Sie ist eine Schönheit und Quell meiner Inspiration. Traurig ist das.
     Das Wasser in den Beinen bezahlt. Mit unfaßbarem Urvertrauen und Dutt auf dem Kopf kapituliert es gleich die ganze Börse der kaffeebraunen Kassiererin. Gut. Vor mir stiernackig ein krankenhausjoppenes Männlein, Zentrum einer Blendung dynamischer Bonbonfarben in anthroposophischen Mustern, hippelig bis zum Exzess, unzählige Male die Schale Eier, das Dusch-Gel und die verschweißten Feigen auf dem Laufband wendend, bis alle Etiketten ausgerichtet sind, lesefreundlich den tippenden Fingern mit verlängert-pinklackierten Nägeln hingerichtet. Wie oft kann ein einzelner Mensch im voraus Groschen zählen, wie unablässig kann er in der Börse wühlen ? — natürlich klappts dann doch nicht wie kalkuliert, denn die Fähigkeit, drei Einzelbeträge zusammenzufügen, muß so schwach entwickelt sein wie der Hals dick ist. So sieht der Mann aus, der jeder Eventualität gerüstet ist, Pumpgun und Luger am Leib und daheim einen Husky. Ich bebe vor Nervosität und Belustigung.
     Dann bin ich dran. Bitte ! die unduldsame Cappuccina. Ich stehe ja mit gar nichts da, wo ich doch keinen Kaffee mehr trinke und keine Filtertüten mehr brauche. Eine Iris Berben, bitte. Ich bin ja doch besser als andere oder auch nicht. Eher dümmer noch. Aber die ist doch umsonst
     Neu : Brötchen, die noch wie Brötchen schmecken
     Muntermacher-Spezial zum Tode von Kim
     Sperti schrumpft Hämorrhoiden, vertreibt Pusteln und massiert Ihre Aura
     Der Luftkrieg zum Kennenlern-Preis Time-Life
     Vegetative Dystonie oder psychovegetative Erschöpfungszustände ?
     Ein Weilchen bleib ich noch am Spendentrog fürs Tierasyl. Wir haben auch Hunger. Ungerührt speien die Damen der Kassen intimste Fäden Konversation einander zu, über Kundenköpfe hin, nicht immer gelungen, eine Ballung Enzym mit Soße trieftrinnt mein Kinn hinab ist man doch froh, daß man jemanden hat speichelts. Ist man das ? Wär das nicht vielmehr in erster Linie ein unseriöser Zug? Leben verketten aus Motiven der Geselligkeit, aus Not, aus Feigheit

     Früher hab ich das alles unter einen Hut gekriegt. Nun stelle ich fest : meine Wahrnehmung ist unter der Krempe hervorgewuchert. Auch hier sind keine traurigen Gesichter mehr. Hier ist nur maskierte Niedertracht und mir kein freier Meinungsaustausch möglich
     Mein Leben hat mich nicht verdient
     So oder so                            das Herz ist der schwächste Muskel
     Zuhaus dann : ich bereite mittels eines zügigen Fingervorstoßes einer Fliege Kopfschmerz. Und schnell erbarme ich mich, sie soll nicht mehr leiden als ich, nicht unbedingt jedenfalls, und quetsche sie mit einem blutigen Tampon. Dann erwirft sich noch ein Denkresultat : Frauen sind keine besseren Menschen. Auch sie laborieren am Mundgeruch in Rachen und Seele. Ich löse meine Sammlung gebrauchter Tampons und Spritzen, rekrutiert in Freibädern und Öffentlichen Parks, endgültig auf, stelle sie in einer Jean-Pascale-Tüte Stenderhoff vor die Tür und mich sinnlos unter Kuratell.
     Die Tage, an denen ich am meisten bedürftig war, des minimalen Zuspruchs harrte, um weitermachen zu können, da irrliefen sie dann und schellten an der Haustür : Guten Tag, der Scherenschleifer ist wieder da — und wendet sich schon, da er vor der ersten Silbe bereits ahnte : kein Geschäft. Nach vier Jahren. Nichts war ersehnter als ein Anruf, der Versöhnung annonciert : dann klingelten sie : Guten Tag, wir haben vor zwei Jahren schon mal telephoniert, Barmenia-Ersatzkasse. Sie sagten, wir könnten ruhig in zwei Jahren
     Draußen lobhudelts auf die Geschwindigkeit, quecksilbern Wagnis und Risiko, Jugendliche mit markigsten Aufschriften auf Brust und Rücken torpeden schlingernd vorbei, skaten und lieben die Gefahr und haben das Leben. Andere whoppen bemuskelpaketet energisch irgendwohin, Sinn und Nase starr geradeaus, in Unkenntnis von Demut mit Aftershave besprüht. Dann riechts nach Underberg und haben die Männer dunklere, markigere Stimmlagen und kennen ihre Rechte äußerst genau. Äußerst genau. Man kann viel mit ihnen machen, aber keinesfalls alles. Nicht alles. Eine der Männerseelen schreit aus Leibeskräften Jaaaa und kommt aus einem Spielsalon namens Rocky. Es ist später Abend und spät in der Linie 6 sind auch die fliehenden Stirne, die fliehen mit der Straßenbahn ... nach Riensberg, dort eine Art Zentralfriedhof ansässig ist
     Ich sitze und esse Brot von gestern, nirgendwo beiß ich auf Gründe dafür oder dagegen, derweil werden Leute beerdigt und Hamster, betreiben zölibatunwillige Kaplane ihre Fortbildung zum Psychodramaturgen. Die Welt ist ein Erlebnispark. Mike Tyson bettelt forgive me snapping in the ring, und mantelumwölkt schreitet ein schlanker Professor mit gestutztem Vollbart durch Novembermorgennebel auf und ab vor Clemens´ Apotheke — was gegen schütteres Haar oder gegen den Krebs der Gesinnung. Ein Haar fällt und ein Blatt und der von den Spatzen, der am sehrsten aus Walle kommt, poussiert mit dem, was sich so auf der Straße findet
     Ein abgegriffener Satz Karten ohne Kreuz-10. Ich türme eine Pyramide, blase sie um und wette, daß Kreuz-9 auf dem Rücken zu liegen kommt. So spiele ich am späten Vormittag Gott. Ich wette mit niemandem

     Irgendwann wagte ich das Äußerste an Uninteressantem : ich hatte begonnen, Joe Cocker und Chris Rea zu hassen, genauer, deren prätentiöse Stimmen. Das scheint mir ab heute überboten. Auch werde ich kein Buch mehr schrei ben. Dabei stand das Profil des Helden schon. Schlechte Zähne sollte er haben (in der Bergen Nordvietnams lebt das Völkchen der Dao, batikt, schält Reis und kaut Unmengen Betelnüsse und Gebete, davon werden die Zähne schön, d.i. dort : schwarz — gute Zeiten für Zahnarztfrauenmission) und also nur Luftschokolade essen. Eben noch im Mastdarm und schon in der Kloake
     Denk ich mir ein Tier, daß für Frau steht, dann das Schnabeltier. Mal kommt von ihm ein freundliches Wort, mal nicht. Meist nicht. Eigentlich nie. Freundlichkeit ist teuer, hat zumindest einen Preis, den ich nicht kenne. Ein Kloakentier, äußerst merkwürdige Säugetiergattung, wie mein Brockhaus von 1885 versichert, auf der Höhe der Zeit wie ich. Man weiß noch nicht sicher, wie das Schnabeltier seine Jungen ernährt. Und wenn man das nicht weiß, wie dann ich ? Aber wer will das im Ernst wissen ?
     Ganz früher, vor Jahresfrist, glaubte ich an die Fügung des Schicksals. Dann glaubte ich an Stopschilder. Zuletzt nur noch an Müdigkeit. Ich war mit Müdigkeit begabt, bekennend tranig. Und diese Blutarmut war mein einziges Talent. Meine Weisheit hatte zwei verkrüppelte Ärmchen, eins für nach Einbruch der Dunkelheit, wozu sie sagte Wo ein Mensch steht, pißt ein Hund, und eins für hellichten Tag : da wußte sie nicht. Das Bruttosozialprodukt war etwas mir sehr Fremdes. Ich hatte keine einnehmende Stimme — ein Punkt, der mich sorgenfrei ließ und für den Löwenteil meines Glückes verantwortlich zeichnete : denn ich sprach mit den Leuten, wie ich mit ihnen wettete. Gedanken reichten bei mir immer nur bis zum ersten Komma. Manche Leute sprechen mit sich selbst oder wenigstens mit anderen — ich sprach immer nur mit den Zweigen verzweifelt vor Bunkern wachsender Bäume, denen ich das Gesicht ratschte. Taktil stand ich häufig in Flammen. Manchmal überlegte ich, was dereinst gewesen sein würde, wenn das letzte Wort, das je ich schriebe, orthographisch ungenau gewesen wäre. Nichts würde gewesen sein, wäre gewesen, würde oder wird sein. Mit dem Käscher unbestimmten Wollens auf der Jagd nach der Frage der Fragen, an deren Rattenschwanz die Antwort möglichst hängen möge, nach dem einen Satz, der mir die Welt aufschlüsselt, blinde Hiebe in die Luft, taubes Blättern in einigen Kapiteln Welt oder Buch mein Plaisier.
     Es war nicht viel.
     Die vielen Dialekte des Schmerzes, in denen mein Körper zu mir spricht. Und mein Geist antwortet mit notorischer Taubheit. Früher war mein Körper ein ästhetisches Problem — heut wär er nur eine Frage der Dosierung von Mittelchen. Früher konnte ich einfach die Augen zumachen. Das kann ich heute auch, nur, daß es nichts hilft.
     Ich lehnte an Verschiedenheiten an. Und winkte eine und bat mich zum Têtê-à-têtê, winkte ich ab und nickte : ja, so hätte es sein können. Vielleicht. Behagen machte mir immer die Novemberwatte, ihre Vliesfäden wärmten mich. Aus ihnen war das eine Labyrinth gestrickt, das ist, um das ich von auß
en herumlief und ab und zu hörte, wie die trauten Weltbürger von innen fidel dagegen anstolperten. Zeit — irgendwie faszinierend, wie sie die Dinge verändert. Die Dinge verdrehen sich zu Ligaturen und ... Eifersucht legt sich auf die Wangen wie ein Hauch kleiner Trommelschläge und weitet Blutgefäße, Eifersucht auf den Kiesel und die Gnade, die er emaniert — friedlich liegt alles in der Kälte und ist freundlich und distanziert zueinander.
     Gepökelte Augen kamen mir entgegen, amtierende Pest, unverzahnt geliert in Mastodonhaut, bepelzmützt und Connaisseuse dessen, wie es eigentlich sein sollte. »Sagen Sie, junger Mann, frieren Sie nicht ?« Nicht mal innerlich, alte Frau. Ich machte kehrt.
     »Reisen Sie, reisen Sie !« verwünschte mich heiterkrähend ein knittriges Stimmchen und winkte vergnügt mit einem reichbenoppten Krückstock, auf dem kleingolden ein Apfelknauf wackelte. Immerhin : eine zerschellte Telephonzelle reüssiert in der Almatastraße, und genau vor der lag das ältelnde Männchen, eine Dose Loyal unter die Achseln geklemmt. Lebenserfahrung sickerte aus einer schwärenden Wunde am rechten Handgelenk. Der Mann aus der Glücksburger Straße — wie konnte ich ihn nur nicht gleich erkennen ! Er hatte sich umgezogen. Keine Falte an seinem Kleid, die nicht wohl überlegt gewesen wäre. Und was für ein Wunder, dieser schwarze Anzug, zeitlos ! dieser Frack — von anmutiger Weite —, an dessen Kragen die unversehrte gepflegte Hand spielerisch zupfte; diese hübsch gebundene Krawatte; diese lange Weste, vom obersten ihrer Knöpfe sehr hoch geschlossen und, nachlässig, halb geöffnet über einem so feinen Hemd mit gefältelten Manschetten; diese Korkenzieherhose über einem Schuhwerk von tadellosem Glanz ! Wie viele Kabrioletts mag ihn doch deren Politur gekostet haben ! Dieser Tippelbruder und Ex-Malkontente : er hatte verschlafen oder nicht begriffen die doppelte Umstellung auf Karten und drei statt zwei Groschen und war zusammengebrochen. Und noch lag falbe Blässe, spärlich getönt mit rosafarbenem Amber, auf seinem Antlitz. Dann baritönte er

Ich fange nie mehr was an einem Sonntag an
Weil ein Sonntag mir meinen Tommi nahm
Liegt ein Sinn darin ?
Ich werd es nie verstehn
Doch das Leben wird immer weitergehn

     Wäre das Leben ein Film, ich nähm es auf. Ansehn würd ich mirs vielleicht später
     Ich halte sehr viel von der Idee, jeder sei seines Glückes Schmied. Nie bin ich gestählt oder mit sonstwie nennenswerter Energie aus Zeiten der Abgeschiedenheit nochmals hervorgekrochen und hab ich nicht immer eine gesunde Verachtung für Menschen, die das Leben meistern, im Bauchladen vor mir her getragen ? So war es doch wohl. Meine Augen können nicht mehr. Ich nehme ein Stück Kreide und schreibe an eine Mauer : Einer, der Asträa schon nicht mehr gekannt hat, war hier
     Du siehst müde aus
     Es ist nur das Leben

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