Der Hund                                                                                        Sven Regener

     Der Nachthimmel, der ganz frei von Wolken war, wies in der Ferne, über Ostberlin, schon einen hellen Schimmer auf, als Frank Lehmann, den sie neuerdings nur noch »Herr Lehmann« nannten, weil sich herumgesprochen hatte, daß er kurz vor seinem vierzigsten Geburtstag stand, quer über den Lausitzer Platz nach Hause ging. Er war müde und seine Sinne waren abgestumpft, denn er kam von der Arbeit in einer der vielen Kneipen, die sich zu beiden Seiten der Wiener- und der Oranienstraße aneinanderreihten.

     Keine Lust mehr auf den Quatsch, dachte er, als er das Klohäuschen auf der westlichen Seite des Platzes passierte. Muß weg aus dem Scheißladen, alles Idioten, Hänger, dachte er, als er sich der Stelle näherte, wo der Weg zwischen Kirche rechts und Bolzplatz links hindurchführte, machen immer später zu, wird immer schlimmer, ich hätte die Schnäpse nicht trinken sollen, ging es ihm durch den Kopf, während sein Blick sich im Vorübergehen in den Maschen der hohen Umzäunung des Bolzplatzes verfing.

     Er ging nicht schnell, die Beine waren ihm schwer von der Arbeit und vom Alkohol, er schleppte sich mühsam vorwärts. Tequila, Wodka, Fernet, das muß aufhören, dachte er, morgen früh wird es mir schlecht gehen, arbeiten und trinken, das verträgt sich nicht, aber man wird ja regelrecht genötigt, dachte er. Gerade ein Alkoholiker wie Erwin sollte seine Angestellten nicht auch noch zum Mitmachen animieren, dachte er, er glaubt wohl, man hätte Spaß daran, dabei ist es bloß die Langeweile und der Abscheu vor den anderen, die einen dazu bringen. Der Mensch muß frei selber bestimmen können, wann er trinken will und wann nicht, nicht bei der Arbeit, da ist man nicht frei, dachte er und erinnerte sich mit Genugtuung der Flasche Whisky, die er heimlich hatte mitgehen lassen und die in einer extra für diese Zwecke angebrachten Innentasche seines langen, viel zu warmen Mantels steckte.

     Dann sah er den Hund.

     Es war ein großes, dunkelbraunes Ungeheuer, es war plötzlich da und versperrte ihm den Weg. Herr Lehmann, wie sie ihn nannten, weil er trotz seiner berufsjugendlichen Erscheinung nicht mehr so jung war wie die anderen, die auf diese Weise witzig zu sein glaubten, kannte sich mit Hunderassen nicht aus, mochte sich aber trotzdem nicht vorstellen, daß ein solches Exemplar mit Absicht gezüchtet wurde. Der Hund hatte einen massigen Kopf mit einer riesigen, sabbernden Schnauze, von dem zwei große, lappige Ohren herunterhingen wie welke Salatblätter. Sein Rumpf war fett, sein Rücken so breit, daß man darauf eine Flasche Whisky hätte abstellen können, und seine Beine ragten spargeldünn und kurz aus dem überdimensionalen Rumpf heraus wie abgebrochene Bleistifte. Herr Lehmann, der es gar nicht witzig fand, daß man ihn jetzt so nannte, hatte noch nie ein so häßliches Tier gesehen. Er blieb erschrocken stehen. Der Hund knurrte ihn an.
     Jetzt bloß nichts falsch machen, dachte er. Immer fest in die Augen schauen, dachte er und konzentrierte seinen Blick auf die beiden schwarzen, blanken Löcher im Schädel seines Gegenübers. Der Hund zog die Lefzen hoch und starrte zurück. Sie hatten etwa drei Schritte Abstand voneinander. Der Hund bewegte sich nicht und Herr Lehmann, der seine Haare seit einiger Zeit nicht mehr trockenfönte, weil das den Haarausfall beschleunigte, bewegte sich auch nicht. Nicht wegsehen, dachte er. Und nichts anmerken lassen. Einfach vorbeigehen. Er machte einen Schritt zur Seite, und der Hund knurrte wieder, ein bösartiges, nervtötendes Geräusch. Bloß nichts anmerken lassen, das Tier spürt die Angst, dachte Herr Lehmann, der sich neuerdings auch Sorgen um sein Gewicht machte und nur noch Cola Light trank, wenn er Cola trank. Noch ein kleiner Schritt zur Seite, dachte er, und dann geradeaus, nicht aus den Augen lassen, noch ein kleiner Schritt, so, und jetzt geradeaus ...
     Aber der Hund ließ das nicht zu. Knurrend folgte er wie ein trödelndes Spiegelbild Herrn Lehmanns Bewegungen, bis sie sich wieder gegenüberstanden.
     Er will mich nicht vorbeilassen, dachte Herr Lehmann, der seinen bald stattfindenden vierzigsten Geburtstag nun erst recht als rauschendes Fest zu feiern gedachte. Das ist doch lächerlich, so etwas darf es nicht geben, dachte er, das ist doch alles gar nicht wahr.
     Aber er hatte Angst. Hinter den zurückgezogenen, tropfenden Lefzen des Ungeheuers sah er die großen gelben Zähne und es schauderte ihn bei der Vorstellung, wie sie von den riesigen Kiefern des Hundes in eines seiner Beine, in einen Arm, in seinen Hals geschlagen wurden; ja sogar um seine Hoden wurde ihm in seiner übernervösen Phantasie angst und bange. Wer weiß, was das für einer ist, dachte er, vielleicht ist der auf irgendwas abgerichtet, ein Killerhund, ein Hodenbeißer, einer, der die Schlagader im Arm trifft, und dann verblutet man hier mitten auf dem Lausitzer Platz, es ist ja niemand da, der Platz ist menschenleer, wer soll sich so früh am sonntagmorgen schon hier herumtreiben, auch die Kneipen sind ja alle schon geschlossen, es ist ja immer meine Kneipe, die am allerspätesten zumacht, um diese Zeit treiben sich ja höchstens noch Verückte herum, wahnsinnige, geisteskranke Berliner mit abgerichteten Killerhunden, vielleicht ein Beknackter, der irgendwo in den Büschen hockt, ein Perverser, der sich einen runterholt, während er zusieht, wie sein zum Töten abgerichteter Bluthund sein Spiel mit mir treibt.
     »Wem gehört dieser Hund hier ?« rief er halblaut, »wem gehört dieser verdammte Scheißhund ?« schrie er, aber es meldete sich niemand. Nur der Hund knurrte noch lauter und verdrehte seinen Kopf so, daß seine Augen rotglühend schimmerten.
     Es ist bloß die Netzhaut, versuchte sich Herr Lehmann, der schon lange der Meinung war, daß die Leute zu viele Gedanken an die Frage des Alterns verschwendeten, einzureden. Es ist bloß die verdammte Netzhaut. Er hat den Kopf verdreht und jetzt fällt das Licht von der Laterne dort so in seine Augen, daß es von der Netzhaut in meine Richtung reflektiert wird. Es ist die Netzhaut, die ist rot, lenkte er sich ab, Karotin und so weiter, Vitamin A und so Zeug, sagt man doch, daß man Karotten essen soll wegen der Augen. Er hatte sich früher einmal mit dem Gedanken getragen, Biologie zu studieren, aber das lag schon lange, lange zurück.
     Biologie, dachte er nun, Biologie hilft jetzt auch nicht mehr weiter, ich muß hier weg. Und es erfüllte ihn ein unbändiges, nie zuvor gekanntes Verlangen nach seinem einsamen Zuhause, einer völlig angstfreien Eineinhalbzimmerwohnung in der Eisenbahnstraße, nur etwa 150 Meter entfernt von der Stelle, an der jetzt ein völlig fremder Hund sein Leben bedrohte.
     Wenn er mich nicht vorbeiläßt, dachte Herr Lehmann, den sie alle immer ganz normal Frank genannt hatten, bis eben dieser ganz und gar kindische, tausendmal plattgetretene Möchtegernwitz, ihn mit Herr Lehmann anzureden, zur allgemeinen Gewohnheit geworden war, dann muß ich eben zurückgehen. Und er entwarf im Geiste schon die Stationen seines Rückwegs und des Umwegs, den er würde in Kauf nehmen müssen, um die tollwütige Bestie des Lausitzer Platzes weiträumig zu umgehen — Waldemarstraße, Pücklerstraße, Wrangelstraße — während er sich langsam, ganz langsam zurückzog. Umzudrehen traute er sich nicht. Bloß nicht umdrehen, immer in die Augen sehen, dachte er und machte vorsichtig kleine, rückwärtsgewandte Schritte. Der Hund machte knurrend einen Schritt vorwärts. Herr Lehmann, der sich schon so sehr auf das Fußbad gefreut hatte, das er sich seit einiger Zeit immer nach der Arbeit gönnte, obwohl er eigentlich der Meinung war, das sei bloß etwas für alte Leute, machte einen großen Schritt zurück und der Hund machte noch einen Schritt vor. Bloß nichts überstürzen, unterdrückte Herr Lehmann in Gedanken den Impuls, sich einfach umzudrehen und davonzulaufen. Als er einen weiteren Schritt zurück tat, brach der Hund, der sein Knurren schon mit einem gelegentlichen, aufschnappenden Bellen würzte, plötzlich seitlich aus und schlich geduckten Hauptes seitlich um ihn herum, sodaß Herr Lehmann, um die Bestie nicht aus den Augen zu lassen, sich auf dem Absatz drehen mußte, bis sie schließlich genau andersherum standen.
     Dann eben in die andere Richtung, dachte Herr Lehmann, der den Humor der Verzweiflung insgeheim für einen der wenigen Vorzüge fortgeschrittenen Alters hielt, da wollte ich sowieso hin. Er machte wieder einige Schritte zurück und das ganze Spiel lief umgekehrt noch einmal ab, der Hund lief um ihn herum, Herr Lehmann drehte sich mit, bis sie sich beide in der Ausgangsposition wiederfanden.
     Ich muß mit ihm reden, dachte Herr Lehmann.
     »Hör mal« begann er leise und mit tiefer, beruhigender Stimme. Der Hund setzte sich. »Ich versteh dich ja« fuhr Herr Lehmann fort. »Hast es auch nicht leicht« Er griff in die Taschen seines Mantels nach Zigaretten, was den Hund ein wenig nervös machte. »Kannst ruhig sitzenbleiben« beschwichtigte Herr Lehmann, »ich zünd mir nur eine an, das wirst du doch wohl kennen, ja, siehst du, alles in Ordnung, ist dein Herrchen wohl auch Raucher, ist vielleicht sogar ein Frauchen, mein Gott, was für Ausdrücke das sind, Herrchen, Frauchen, wer denkt sich sowas bloß aus ...« entfuhr es ihm.
     Dem Hund schien es egal zu sein; er ließ seine dürren Vorderbeine einknicken und sein fetter Leib klatschte auf den Asphalt.
     »So ist es richtig, leg dich erstmal hin« sagte Herr Lehmann, dem das Hinlegen in den letzten Jahren selbst zur Lieblingsbeschäftigung geworden war, und bewegte sich, während er pausenlos weiterredete, mit ganz kleinen, harm
losen Fußbewegungen zur Seite. »Da bin ich doch der letzte, der schlafende Hunde weckt« kalauerte er drauflos, »schlaf, mein kleiner Scheißhund, schlaf, ich weiß, wie es ist, wenn man müde ist, ich kenne das ich hab´s nämlich auch nicht leicht, ich bin auch müde, aber du, Hundchen, bist noch viel müder ...« — Stück für Stück bewegter er sich zur Seite, »... das macht einen Hund müde, wenn er herumläuft und unschuldige Menschen bedroht, weiß der Himmel, wie man als Hund auf so einen Scheiß kommt, so, jetzt bin ich schon fast einen ganzen Meter weiter rechts als du, und jetzt mach ich mal einen ganz klitzekleinen Schritt nach vorne und du schläfst jetzt mal schön, nur ein ganz kleiner Schritt nach vorne, und dann noch einer ...«
     Der Hund aber durchschaute diese Taktik; er sprang mit einer Kraft und einer Geschwindigkeit auf, die Herr Lehmann, der sich selbst schon lange nicht mehr als sportliches Wesen einstufen konnte, bei diesen spargeldünnen, ganz kraftlos wirkenden Beinen nicht für möglich gehalten hätte, und knurrte und bellte so aggressiv auf sein Opfer ein, daß Herr Lehmann zu Tode erschrak.
     »Scheiße !« schrie er aus vollem Halse über den leeren Platz. »nimm doch einer den Scheißhund hier weg ! Und halt´s Maul !« brüllte er den Hund an, der prompt verstummte.
     »Da wird man ja aggressiv«, fügte Herr Lehmann, der sich sonst so viel auf seine weise, altersbedingte Gelassenheit zugute hielt, beinahe entschuldigend hinzu.
     Der Hund setzte sich wieder.
     Herr Lehmann, dessen Füße von der Arbeit schmerzten, dem die Beine wie Blei und die Knochen am ganzen Körper wie zerschlagen waren, ging resignierend in die Hocke.
     Jetzt ist es auch egal, dachte er, als ihm diese Stellung nicht die gewünschte Erleichterung brachte, da kann ich mich auch gleich ganz hinsetzen. Er ließ sich nach hinten fallen und kam in einer Art Schneidersitz zur Ruhe. Wenn mich einer sieht, ging es ihm kurz durch den Kopf, aber das kümmerte ihn auch nicht mehr besonders. Der Asphalt unter seinem Hintern war kalt, und er fror. Es ist die kälteste Zeit des Tages, dachte er und rückte so zurecht, daß er auf dem unteren Ende seines Mantels saß. Um diese Zeit ist es arschkalt, obwohl es am Tage schon so warm wird. Und wie hell es schon geworden ist, dachte er; er hatte gar nicht gemerkt, daß es schon so hell geworden war. Und die vielen Vögel überall. Es ist doch nicht das erste Mal, weiß Gott nicht, daß ich um diese Zeit nach Hause gehe, dachte er, und noch nie ist mir aufgefallen, daß so viele Vögel so viel Lärm machen. Es waren unzählig viele, sie hockten auf den Bäumen, in den Büschen, auf der hohen Umzäunung des Bolzplatzes, auf den Sitzbänken, die nicht weit von ihm zu einem Halbkreis gruppiert herumstanden und auf denen tagsüber immer einige Penner oder alte Leute oder beides saßen. Sie fliegen ja gar nicht herum, wunderte er sich, es sind so viele und sie sitzen bloß da und machen Lärm. Und warum eigentlich ?
     vEs gibt doch eine Menge Tiere in der Stadt, dachte er, als er zwei dunkle Schatten, Kaninchen wahrscheinlich, über die Wiese bei der Kirche huschen sah.
     »Warum jagst du eigentlich keine Kaninchen ?« fragte er den Hund, der sich ganz auf dem Pflaster ausgestreckt und den Kopf zwischen die Vorderpfoten gelegt hatte. Herr Lehmann, der sich trotz seiner weisen, altersbedingten Gelassenheit immer wieder insgeheim über den Unsinn und den schalen Witz dieser Anrede ärgerte, erinnerte sich plötzlich seiner auf nicht ganz astreine Art erworbenen Whiskyflasche, zog sie aus dem Mantel, schraubte sie auf und nahm einen kräftigen Schluck gegen die Kälte.
     »Jetzt ist das auch egal« erklärte er dem Hund. »Du bist wahrscheinlich zu blöd oder langsam für Kaninchen, mit deinen komischen Beinen«
     Der Whisky tat ihm gut, er brachte Wärme und verscheuchte die Kopfschmerzen, die bei ihm bereits als Vorgeschmack auf den Kater des nächsten Tages eingesetzt hatten.
     »Du siehst ja aus« spann Herr Lehmann, der sich in letzter Zeit immer öfter dabei ertappte, daß er mit einer gewissen Wehmut und ohne den früher üblichen Zorn an seine Kindheit zurückdachte, den Faden weiter, »wie diese Tiere, die man als Kind aus Kastanien gemacht hat, wo man so Streichhölzer in die Kastanien steckt, als Beine und so. Wenn ich einfach weglaufen würde, wer weiß, ob du mich kriegst, mit den Beinen ...«
     Herr Lehmann nahm noch einen Schluck, der Hund tat gar nichts. »Bin selber nicht sehr schnell« sagte er, bloß um das Gespräch nicht einschlafen zu lassen. »Wie heißt du eigentlich ?«
     Er stellte die Flasche neben sich, zog die Beine an den Körper und legte die Arme darum. Der Hund blinzelte ganz friedlich zu ihm herüber.

     »Vielleicht sollten wir mal feststellen, wie du heißt« sagte Herr Lehmann, der das wirklich für eine gute Idee hielt. Ich muß bloß wissen, wie er heißt, redete er sich ein, dann hört er auf mich, mit seinem Namen ist er vertraut, er hat ja ein Halsband, also hat er ein Herrchen, also hat er einen Namen, ich brauche bloß seinen Namen zu sagen, dann fühlt er sich heimisch, dann ist Autorität da, dachte er. »Bello« schlug er vor. Der Hund rührte sich nicht. »Hasso ?« Nichts.
     Dann hörte Herr Lehmann Schritte. Sie kamen von hinter ihm. Er drehte sich herum und sah eine Frau auf sich zukommen, eine dicke Frau mit weiten Kleidern und einem Kopftuch. Eine Frau, dachte Herr Lehmann. Vielleicht kann sie mich ablösen.
     Obwohl er sich komisch dabei vorkam, wie er hier auf dem Weg saß, mit einer Flasche Whisky neben sich, stand er nicht auf, er war einfach zu müde. Er verrenkte sich weiter den Kopf und sah der Frau entgegen, die, wohl weil sie ihn und den Hund erblickt hatte, ihren Schritt beschleunigte und ganz auf die andere Seite des Wegs wechselte.
     »Entschuldigen Sie« begann Herr Lehmann, als sie auf seiner Höhe war, aber sie sah nicht zu ihm her, blickte starr nach vorne und legte noch einen Zahn zu, als er das Wort an sie richtete.
     Der Hund sah zur anderen Seite und ließ sich nichts anmerken.
     »Warten Sie doch mal« rief Herr Lehmann verzweifelt, »ich habe hier nämlich ein Problem, das ist nämlich ...« — die Frau, so alt sie auch zu sein schien, rannte jetzt fast und war um die Ecke verschwunden, bevor er seinen Satz zuende bringen konnte. Der Hund knurrte zufrieden.
     »Schon gut, schon gut ... — Harro ?« Auch dieser Name bewirkte nichts. »Bello, Rüdiger, Fiffi — nein, wie ein Fiffi siehst du eigentlich nicht aus —Kuddel, Saftsack — wie gehen denn jetzt diese Hundenamen nochmal — Otsche ...?« Otsche, so hatte der Hund einer lange verstorbenen Großtante geheißen, es war ein kleiner Langhaardackel gewesen, den ein Lieferwagen überfahren hatte. Herr Lehmann hatte, als er noch ein Kind war, ihn aus tiefstem Herzen gehaßt. »Wastl, Hans, Lassie, Wauwau, Watschel, Spinnebein...« Der Hund zeigte kein Interesse. »Watzmann, Bootsmann, Boxi, Boskop...«
     Herr Lehmann verlor die Lust an diesem Thema. Ist ja alles Unsinn, dachte er, ich bin ja betrunken. Er nahm noch einen Schluck und zündete sich eine Zigarette an.
     »Du mußt wissen« sagte er dann, »daß ich Hunde immer schon gehaßt habe. Schon als kleines Kind. Und das ist lange her. Hunde gehören nicht in die Stadt. Hab immer Angst gehabt vor Hunden. Hallo ! Hallo, Polizei !« rief er schwach, als plötzlich ein Polizeiwagen den Platz entlangfuhr. Er hob eine Hand, winkte sogar, aber der Wagen fuhr vorbei, ohne daß man ihn bemerkte.
     »Da kannst du aber froh sein« belehrte er den Hund. »Die hätten dich erschossen, aber ruckzuck. Noch denkst du, daß du im Vorteil bist, aber das kannst du vergessen. Strategisch bist du nämlich im Nachteil. Der Mensch ist dem Tier überlegen. Wenn du ein Wolf wärst und ich irgendein Bauerndepp, der durch den Wald latscht, dann hättest du vielleicht eine Chance. Aber hier sind wir in der Stadt. Es werden Leute kommen und mir helfen. Und dich wird man einsperren. Außerdem ist der Mensch im Gegensatz zum Tier in der Lage Werkzeuge zu benutzen. Werkzeuge, du Scheißköter, denk mal drüber nach. Das ist der entscheidende Unterschied, Werkzeuge, damit fing alles an. Zum Beispiel diese Flasche hier« Er hob die Flasche und der Hund knurrte. »Ich könnte dir diese Flasche auf den Kopf hauen, da sähst du aber alt aus. Wär bloß schade drum. Das ist 12 Jahre alter Whisky. Irischer Whisky. Kostet über 20 Mark«
     Er goß, nur um mal etwas anderes zu tun, die Verschlußkappe voll und hatte sie schon an den Mund gesetzt, als er den interessierten Blick des Tieres bemerkte. Zum Test hielt er die gefüllte Kappe erst nach links, dann nach rechts, und der Hund folgte ihr mit den Augen, sein Maul stand offen, die Zunge hing heraus, und er begann zu hecheln.
     »Aha !« sagte Herr Lehmann und kicherte gehässig. »Verstehe« sagte er. »Dann paß mal auf !«
     Er beugte sich vorsichtig vor und warf die volle Kappe so, daß sie zwischen den Vorderpfoten des Hundes landete und der Schnaps sich in einer kleinen Lache dazwischen ausbreitete. Der Hund roch daran, rückte seinen unförmigen Leib zurecht und begann die Flüssigkeit aufzulecken.
     »Kannst noch mehr haben« jubelte Herr Lehmann, und er überschwemmte den Gehweg, der aufgrund einer glücklichen Fügung zum Hund hin etwas abfiel mit Schnaps. »Scheinst ja dran gewöhnt zu sein« höhnte er, als der Hund gierig das kleine Rinnsal aufschlabberte, das ihm entgegenfloß. »Gehörst wahrscheinlich irgendeinem Penner, einem Süffel, der dich süchtig gemacht hat« triumphierte Herr Lehmann und nahm selber mehrere großzügige Schlucke aus der Pulle. Der Hund schaute kurz mit glasigen Augen zu ihm her und leckte dann weiter.
     »Du bist gleich sowas von k.o., das schwör ich dir aber. Buh !« Herr Lehmann stieß die Flasche zum Hund hin durch die Luft und das Tier reagierte gar nicht darauf. Es leckte weiter bis nichts mehr kam und versuchte dann, auf die Beine zu kommen.
     »Gar nicht mehr so einfach ...« Herr Lehmann nahm noch einen Schluck, spritzte noch aus purem Übermut etwas von dem Whisky über das Tier und stand dann selber mit leicht wackligen Beinen auf. Der Hund machte einen kleinen Gehversuch und zog unsicher die Lefzen hoch, als Herr Lehmann ihn ganz sachte unters Kinn trat; er gurgelte etwas, das wohl ein Knurren sein sollte.
     »Aus dem Weg, Schurke !« rief Lehmann großartig und schob ihn mit dem Fuß so gut es ging beiseite. Der Hund schnappte langsam und wenig überzeugend nach ihm. Lehmann trat ihn um.
     »Komm doch her, komm doch, wenn du was willst, du fette ... fette Bettwurst !« spottete er. Der Hund rappelte sich hoch, stellte sich quer und lehnte sich an Lehmanns Beine.
     »Weg da, Scheißkerl« maulte Lehmann, aber jetzt, als sich das häßliche Tier so seltsam vertrauensvoll und haltsuchend an ihn schmiegte, tat es ihm ein bißchen leid. Er trat ein wenig zurück und der Hund kippte langsam nach, bis sein schwerer Körper auf Lehmanns Füßen lag; Lehmann kam aus dem Gleichgewicht, ruderte mit den Armen und fiel über den Körper des Hundes hinweg auf den Boden, wobei er nur mühsam verhindern konnte, daß ihm die Flasche zerbrach.
     »Was machen Sie denn da ?« Zwei Polizisten schauten plötzlich auf ihn herunter, er hatte sie gar nicht kommen gehört.

     »Ich kämpfe mit der Kreatur, das sehen Sie doch« sagte er, der beim Anblick von soviel Staatsgewalt ganz nüchtern wurde.
     »Hab schon alles erledigt« wiegelte er ab. »Alles im Griff, Leute, ehrlich«
     »Der ist total besoffen« sagte der eine Polizist, der ungefähr in Herrn Lehmanns Alter sein mochte.
     »Nun stehen Sie mal auf« sagte der andere, der offensichtlich so jung war, daß Herr Lehmann sein Vater hätte sein können.
     »Ist nicht so einfach« entschuldigte er sich, »der Scheißköter, Sie sehen ja selbst ...« Er stützte sich auf Arme und Beine, aber der Hund, der sich unter ihm wälzte und die Flasche, die er noch immer in der Hand hielt, machten es ihm schwer. Der eine Polizist nahm ihm die Flasche, in der ohnehin nicht mehr viel drin war, aus der Hand, der andere zog ihn, unangemessen grob, wie Herr Lehmann, gerade auch angesichts seines Alters, fand, in die Höhe.
     »Ist das Ihr Hund?« fragte der ältere der beiden Polizisten streng.
     »Nö ... Scheißhund !« Schwankend stand Herr Lehmann vor ihnen und versuchte die Flasche zu erhaschen, aber die Polizisten ließen es nicht zu. »Hat mich bedroht, der Schweineköter. Konnte nicht nach Hause«
     Die Polizisten sahen beide zum Hund, der gar nicht mehr gefährlich aussah, bloß hechelnd, mit seitlich heraushängender Zunge und glasigen Augen zurückstarrte. Der jüngere von ihnen ging in die Hocke und streichelte das Tier über den Kopf. Der Hund versuchte aufzustehen, aber nicht einmal das gelang ihm mehr.
     »Der ist ja besoffen« sagte der hockende Polizist.
     »Das ist Tierquälerei« sagte der andere.
     »Das gibt eine Anzeige, das ist strafbar« sagte der erste.
     »Wegen Tierquälerei« sagte der zweite.
     »Das arme Tier, Sie haben ihm Alkohol eingeflößt«
     »Das ist Tierquälerei. Sie sollten sich was schämen. So ein wehrloses Tier ! «
     »Wehrlos ? Ha !« empörte sich Herr Lehmann. »Das war Notwehr, ich hatte keine Wahl und all das ...« Er war plötzlich viel zu müde, um alles genauer zu erklären.
     Und die Polizisten interessierten sich auch nicht dafür. Das könne er alles vor Gericht erklären, sagten sie und nahmen seine Personalien auf.
     »So, Herr Lehmann !« sagte der ältere Polizist höhnisch, als er ihm seinen Ausweis zurückgab. »Sie hören von uns. Und jetzt machen Sie, daß Sie nach Hause kommen. Den Hund nehmen wir mit. Den sehen Sie nie wieder. Tierquälerei, eine Schande ist sowas«
     »Hoffentlich« sagte Lehmann trotzig.
     »Hauen Sie ab, aber ganz schnell. Bevor ich mich vergesse !«
     Lehmann ging unsicheren Schritts davon. Am Fuß der Eisenbahnstraße schaute er sich noch einmal um und sah, wie die beiden Polizisten das massive Tier zu ihrem Wagen schleppten.
     »Armer Kerl« glaubte er den einen noch sagen zu hören. Dann erwachte der Hund aus seiner Lethargie und biß zu.
     Herr Lehmann ging schnell weiter und lachte erst, als er außer Sicht war.

***