Ilja Erenburg

A vse-taki ona vertitsja und sie bewegt sich doch

Wie ich beim Arbat-Tor von Metall und von vielem anderem träumte

     Es war sehr rührend. Sowjetische Angestellte zogen auf Schlitten ihre Pferdefleischrationen, ein Junge verkaufte Zigaretten einzeln, und ich stand mit zwei Künstlern in der Mitte des Platzes, dort, wo in der »Epoche der Zivilisation« so etwas wie ein Park gewesen war, und träumte mit ihnen von Metall. Wir gingen an Ort [?] wegen der Kälte und gestikulierten wie erregte Südländer. In Träumerei waren wir versunken, nachdem wir Tatlins Projekt für ein »Monument für die Dritte Internationale« kennengelernt hatten, und die Träumerei hatte ihren guten Grund :
     Auf den Ruinen des kaiserlichen Sankt Petersburg hatte ein einheimischer, weißhaariger Prophet (der wie ein Arbeiter aussah) ein klares Zeichen gesetzt :
                                                            Die neue Architektur
beginnt. Ich rufe kurz seine Verdienste in Erinnerung. Inmitten einer Epidemie von gipsernen Idioten, die nach obrigkeitlichen Listen auf unsere Plätze gestellt (nicht auf ewig — dank sei Wind und Regen) worden waren — etwas Einfaches und Klares : genug, hört auf, ihr Schnauzbärtigen, mit Puppen zu spielen ! Erstens haben diese ehrwürdigen Käuze kein Wohnrecht in den modernen Städten, zweitens ist die neue SKULPTUR = ARCHITEKTUR, drittens (ein bißchen Ideologie) stirbt das Persönliche aus; einem Monument geziemt es, eine Epoche, eine Bewegung zu repräsentieren, nicht aber einen »Herrn Sowieso«, und viertens heißt unsere Parole Utilitarismus; wenn schon bauen, dann nicht unnütz, sondern für einen bestimmten Zweck.
     Dann stellt sich die Frage der Formen. Die Dynamik der Gegenwart drückt sich aus in einer erstaunlichen Spirale. Neben dem Eisen, das in die Architektur bereits Einzug gehalten hat, ist unser Material — freches Glas. Dies ist nicht etwa irgendeine Schnapsidee, sondern eine praktische Voraussicht1. Heute ist es ein Modell für ein Monument, aber schon morgen wird der Leser dieses Buches über den »Futuristen« Ehrenburg im gläsernen Arbeitszimmer seines gläsernen (zum Glück nicht durchsichtigen) Hauses grinsen.
     Das Modell des Monuments von Tatlin ist etwa 25 Meter hoch. Die Höhe des richtigen Turmes wird 400 Meter betragen (der Eiffelturm ist 300 Meter hoch). Zwei Zylinder, eine Pyramide (die sich alle drehen). Glas. Rundherum eine eiserne Spirale. Innerhalb dieser Glasformen gigantische Säle : Sitzungen, Redaktionen2. Eine einzige riesige Thermosflasche (im Winter wird Energie gespart, im Juli geht man auch bei den hitzigsten Debatten straffrei aus).
     Dies sind, kurz skizziert, die Grundzüge von Tatlins Monument. Es überzeugte viele Ingenieure und wenige Architekten. Als es im Haus der Gewerkschaften ausgestellt wurde, rief es hauptsächlich Erschrecken und Gelächter hervor. Der Mehrheit der Kommunisten gefiel der gipserne Bart Marxens bedeutend besser3 (als Zugeständnis an die Gegenwart sind die Locken von einem assyrischen Friseur).
     Ich kehre zu uns zurück, d.h. auf den Arbat-Platz. Wir sahen ein Monument, und, wenn wir auch keine Ingenieure waren, sondern zwei Künstler und so etwas wie ein Dichter, es wurde uns klar und überzeugte uns völlig. Aber es war doch nur ein Modell ! ...
Schwermütig schauten wir auf die verlassenen, rußgeschwärzten Häuser, auf die Straßenbahn, die zwecklos die Schlitten der Angestellten einholte, auf die Einzel-Zigaretten ... In seinem unerträglichen Kampf um ein Pfund Roggenbrot strömte Moskau täglich nach Osten4. Beinahe wie in Liberia. Vielleicht sind wir und vier- oder fünftausend andere, die wir uns über Tatlins Monument unterhalten, nichts anderes als eine auf dem endlich entblößten Körper des schwarzbäuchigen Präsidenten vergessene Weste ? (siehe die »Geschichte Liberias«). Wo soll man hier das Eisen und das übrige Material (das personelle) hernehmen, damit das Modell zum Monument wird ? Und unwillkürlich drehten wir uns zu jenem Teil des grauen, langweiligen Himmels um, wo die Sonne nur abends zu sehen ist, nach dem Westen. Wir drehten uns vergebens um, denn es war Morgen ...

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1 In Amerika wurde in den letzten fünf Jahren eine Reihe von Arbeiterhäusern aus Glas gebaut. Eine Aktiengesellschaft für billige Wohnsiedlungen in Rotterdam entschied sich bei der Wahl des Baustoffs für Glas.
2Im Frühlicht, I (1921/22) Nr. 3 schreibt Erenburg : »Im Innern dieser gläsernen Körper befinden sich die Säle der Sammlung, Wiedervereinigung, Übereinstimmung usw.«
3 Die Leute, die nach Weltveränderung dürsten, sind den alten Requisiten, den Allegorien unserer Großväter und den Sentenzen unserer Großmütter über alle Maßen verhaftet. Hier ein kleines Beispiel, die neuen Briefmarken der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik. Briefmarken sind ein Mittel der künstlerischen Propaganda. Und was bringen hier die Revolutionäre für Europa ? Eine langweilig hingekleckste Leier ! Ganz das Wahrzeichen des Nouveauriche, der die Musen vergöttert. Sogar die »gemäßigten« Marken, die N. Altman 1918 vorschlug, erwiesen sich als allzu »links« ! Ich kann dem Vergnügen nicht entsagen, zu Marxens Bart das folgende lehrreiche Zitat anzuführen : »Die Traditionen aller vergangenen Generationen lasten auf den Köpfen der Lebenden, und genau dann, wenn es so aussieht, als ob sie sich an radikale Veränderungen machen, etwas Neues, nie Dagewesenes zu erschaffen, in solchen Epochen der revolutionären Krise, rufen sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu Hilfe, leihen sich ihre Namen, Schlachtrufe und sogar ihre Kostüme, und in diesen von den Jahrhunderten geheiligten Gewändern spielen sie eine neue Episode der Weltgeschichte« Karl Marx
4 Freuet euch, Eurasier !