Sensation : Kafka-Erzählung neu weitergeschrieben

[Das Leihhaus] II

     K. trat wieder auf die Straße hinaus. Er war unsicher, wohin er gehen sollte. Zudem war er unsicher, woher er denn gekommen sein sollte, denn schon nach so kurzer Zeit hatte der wild und wilder durch den trüben Schein der Laternen stürzende Schnee alle Spuren, auch die von K., gänzlich zugedeckt.
     K. bemerkte es nicht sogleich, aber unwillkürlich hastete er, sogar ein zweimal beinahe hinschlagend, viel zu schnell eigentlich für einen Ziellosen, dem heruntergekommenen und trüben Stadtviertel zu, in dem sich das Kontor befand. Erst, als K. der Treppenabsatz, den er schließlich betrat, merkwürdig vertraut vorkam, gewahrte er, daß er, ohne sich dessen bewußt gewesen zu
sein, seinen gewöhnlichen Weg zur Arbeit genommen hatte. Wie um seiner Verwunderung Ausdruck zu verleihen, erhob er den Blick die Fassade empor zu dem Fenster, hinter dem sich sein Pult befand. Hatte er vergessen, das Licht zu löschen ? Sollte er so nachlässig gewesen sein ? Allein, das Licht an K´s Platz brannte. Vielleicht, weil dort noch jemand arbeitete — aber wer ? Nie hatte jemand an K´s Platz gearbeitet; keiner außer ihm hatte Zutritt zu dem Raume oder durfte ihn haben; jeder außer ihm würde unweigerlich schwere und schwerste Fehler begehen, die notwendig sich aus dem Eindringen in die höhere, nur ihm begreifliche Ordnung seiner Papiere, Akten und Karteien ergeben würden. Damit wäre über das gesamte Kontor, wie schon über andere Firmen vor ihm, das immerhin gerechte Urteil gesprochen — es wäre unrettbar verloren, dem Untergang geweiht.
     K. erschauerte, obwohl eine solche Katastrophe in Anwandlungen von Beklemmung, die ihn in gewissen Abständen quälend heimsuchten, als eine Art letzter Prüfung seines eigenen Daseins, der Existenz und des Wirkens von Kontor, Gesetz und höchsten Stellen, die immer vor seinem geistigen Auge stand und ihn von Zeit zu Zeit selbst bis in seine Träume verfolgte —
     In einem Anflug körperlicher Schwäche mußte K. sich am Treppengeländer festhalten. Noch einmal richtete er den Blick nach oben und bemerkte diesmal zusätzlich einen undeutlichen Schatten, die Kontur eines Mannes, der augenscheinlich und zweifellos an K´s Pult saß und schrieb.
     K. schwanden die Sinne. Er fiel rücklings in den Schnee und zerquetschte unter seinem schwächlichen Körper eine enorme Ratte, wie es sie in diesem finsteren Stadtbezirk in großer Zahl gab.
     Als K. wieder zu Bewußtsein kam, strich und klopfte er sich den Schnee vom Mantel und erinnerte sich plötzlich der Wirtin und seines Versprechens, ihr mehr Geld zu bringen.
     Kurzentschlossen und wieder völlig klar im Denken (den Vorfall am Kontor, wenn er denn wirklich gewesen war, hatte er, seltsam genug, vollständig vergessen) lenkte K. seine Schritte in Richtung des einzigen Leihhauses, das ihm in der Stadt bekannt war. Dort wollte er die väterliche Uhr zu Geld machen. Ihm war, als habe er nie mit diesem Entschluß ringen müssen, er wunderte sich selbst, weshalb ihm dies nicht schwerfiel. Ja, beinah schien es ihm, als handele er geradezu in väterlichem Auftrage, als sei sein Vater gar gestorben, nur um K. die Uhr vermachen und ihm so aus dieser Verlegenheit helfen zu können.
     Wärme und Zuversicht durchströmte ihn. Zielstrebig und glücklich nahm er seinen Weg durch die nun viel freundlicher erscheinenden Gassen. Selbst der schmutzige Bettler, der sich K. unversehens, aus dem Dunkeln ins Licht tretend, in den Weg stellte, ihn bespie, mit gräßlicher Stimme verhöhnte und ihm sein letztes Kleingeld abnötigte, verdroß ihn zunächst nicht. K. händigte dem Bettler seine letzten Kronen aus und niemand beschrieb seinen Schrecken, als dieser ihn, in das Dunkel eines Gäßchens eintauchend, mit den Worten verabschiedete: »Du bist entlassen, K. Hörst du, entlassen bist du«, so daß es nur so durch die Straßen hallte.

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