Aus Dr. Freuds Sprechstunde. Heute : Das Gesindel

aus einem Brief an Martha Bernays vom 29. August 1883

Anläßlich einer Carmen-Aufführung


Das Gesindel lebt sich aus u. wir entbehren. Wir entbehren, um unsere Integrität zu erhalten, wir sparen mit unserer Gesundheit, unserer Genußfähigkeit, unseren Erregungen, wir heben uns für etwas auf, wissen selbst nicht für was — und diese Gewohnheit der beständigen Unterdrückung natürlicher Triebe gibt uns den Charakter der Verfeinerung. Wir empfinden auch tiefer und dürfen darum uns nur wenig zumuten; warum betrinken wir uns nicht ? Weil uns die Unbehaglichkeit u. Schande des Katzenjammers mehr Unlust als das Betrinken Lust schafft; warum verlieben wir uns nicht jeden Monat aufs Neue ? Weil bei jeder Trennung ein Stück unseres Herzens abgerissen würde; warum machen wir nicht jeden zum Freund ? Weil uns sein Verlust oder sein Unglück bitter betreffen würde. So geht unser Bestreben mehr dahin Leid von uns abzuhalten als uns Genuß zu verschaffen und in der höchsten Potenz sind wir Menschen wie wir beide, die sich mit den Banden von Tod und Leben aneinander ketten, die jahrelang entbehren u. sich sehnen um einander nicht untreu zu werden, die gewiß einen schweren Schicksalsschlag, der uns des theuersten beraubt, nicht überstehen würden. Menschen, die wie jener Asra, nur einmal lieben können. Unsere ganze Lebensführung hat zur Voraussetzung, daß wir vor dem groben Elend geschützt seien, daß uns die Möglichkeit offen stehe, uns immer mehr von den gesellschaftlichen Übeln frei zu erhalten. Die Armen, das Volk, sie könnten nicht bestehen ohne ihre dicke Haut u. ihren leichten Sinn; wozu sollten sie Neigungen so intensiv nehmen, wenn sich alles Unglück, das die Natur u. die Gesellschaft im Vorrat hat, gegen ihre Lieben richtet, wozu das augenblickliche Vergnügen verschmähen, wenn sie auf kein anderes warten können ? Die Armen sind zu ohnmächtig, zu exponiert, um es uns gleichzutun. Wenn ich das Volk sich gütlich thun sehe mit Hintansetzung aller Besonnenheit denke ich immer, das ist ihre Abfindung dafür, daß alle Steuern, Epidemien, Krankheiten, Übelstände der sozialen Einrichtungen sie so schutzlos treffen. Ich will diese Gedanken nicht weiter verfolgen, aber man könnte darlegen, wie ›das Volk‹ ganz anders urtheilt, glaubt, hofft u. arbeitet als wir. Es giebt eine Psychologie des gemeinen Mannes, die von der unserigen ziemlich unterschieden ist. Sie haben auch mehr Gemeingefühl als wir, es ist nur in ihnen lebhaft, daß sie einer das Leben des andern forrtsetzen, während jedem von uns mit seinem Tod die Welt erlischt.

***