Göte »übersehen« !

— Des Dichters Hölterlein gefühllose Infamie —

recherchiert von Matthias Blaß

     Ratlos sieht sich das Publikum dem Phänomen der fortschreitenden Verschrullung des alternden Göte ausgesetzt. Dem Salmoxisboten ist für die Wahrnehmung der verdienstvollen Aufgabe Dank zu sagen, die Verwirrung des Kranken in den vorrangigen Ausgaben ins Bewußtsein der Öffentlichkeit gehoben zu haben. Die Wissenschaft konnte nun unter Zuhilfenahme der vitae Götes und einiger Zeitgenossen mit Instrumenten der Psychoanalyse die Krankheit des armen Göte dechiffrieren : ein früh implantierter Nichtigkeitskomplex Götes brach plötzlich auf, als der Poet von einem heimlich verehrten Genie seiner Zeit »übersehen« ! wurde.
     Dem kleinen Göte schon hat die Sendung übel mitgespielt. Die Hebamme stellte sich dämlich an und ließ den Wurm beinahe verrecken. Nach dreitägiger Geburt zerrte sie ihn dennoch, vor Sauerstoffmangel halbtotblau angelaufen, ans Dunkel der Gebärkammer : »Nie geboren zu werden ist weit das Beste« (Sophokles). Von hier an lernte der kleine Göte, daß man um Sein, Anerkennung und Wärme nur kämpfen kann.
     Elterliche Liebe und Förderung hat der kleine Göte nie genossen. Sein Vater war ein patrizischer Streuner, über dessen Härte und Unverstand Göte Klage führte. Als Vierzigjähriger schändete er die siebzehnjährige Elisabeth Textor, sodann Götes Mutter. Zwischen Göte und seiner Mutter bestand ein distanziertes Verhältnis. Schon in den ersten Lebensjahren verweigerte sie dem kleinen Göte die Brust, belegte ihn bald höhnisch mit Spitznamen wie »Hätschelhans« und »Wölfchen«, schmiß später zur Freude der Göteforscher an Papieren des Hoffnungsvollen drei Zentner auf den Müll und wies sogar ein von ihrem Sohn zugesandtes Werk, mit dem dieser doch nur ein wenig Bestätigung erheischen wollte, kalt ab. Alleingelassen, mußte er seine Mutter aufgeben, besuchte sie fast nie (die letzten elf Jahre ihres Lebens gar nicht), verbrannte ihre Briefe und erschien nach ihrem Tode nicht einmal persönlich zur Erbteilung. Für die Richtigkeit der Angaben vergleiche z.B. Friedenthals Foliant »Göte. Sein Leben und seine Zeit«, in dem sich Biograph und Gegenstand seelig ergänzen.
    Eine Kindheit hat der arme Göte nie gekannt. Raufereien abhold, gab er sich früh bereits gravitätisch. Der Leidensdruck familiärer Mißachtung ließ ihn Kompensation suchen im Streben nach gesellschaftlicher Reputation. So erkämpfte sich der vernachlässigte Bub unter dem seriösen Mantel der Weltmännischkeit unbemerkt die Lorbeeren in Dichtung, Naturwissenschaft, Staats- und Liebeskunst. Alles ging gut. Bis zu jenem frühen Novembertag im Jahre 1794.
     Mitte der Neunziger des 18. Jhdt. sah sich Göte zusehends von der einseitigen Rivalität mit Schiller im Drang nach Geltung bedroht, was Götes Reserviertheit Schiller gegenüber veranschaulicht. Dennoch lungerte er des öfteren bei Schiller in Jena herum, um die Zeit nicht zu verpassen. Augenzeugen gemäß so auch ab dem 2. November 1794, was ein bei Nachforschungen zu Tage gefördertes Billett Götes an Schiller vom 1. November 1794 bestätigt : »Morgen frühe gegen 10 Uhr hoffe ich mit Meyern in Jena einzutreffen und einige vergnügte Tage in Ihrer Nähe zu verbringen. Ich wünsche daß ich Sie recht wohl antreffen möge« (Göte, Sämtliche Werke, Hanser, 8.1, 38). Diese Tage reiste auch Hölderlin mit Charlotte von Kalb zu Schiller, mit dem er in regem Kontakt stand, nach Jena. Wir müssen dringend davon ausgehen, daß Hölderlin von Götes Anwesenheit in Jena unterrichtet war, verrät er doch in Ansehung der Reisevorbereitungen brieflich seiner Mutter : »Auch mit Göte und Wieland will mich die Frau von Kalb, die von all diesen die vertrauteste Freundin ist, bekannt machen« (Hölderlin, Stuttgarter Ausgabe, 6.1, 115). Möglicherweise hat auch Göte gewußt, daß Hölderlin bei Schiller angemeldet war. Zumindest kauerte der Bedauerliche allerhöchstwahrscheinlich zwischen dem 2. und 7. November 1794 zu Mittag in einer Nische des Schillerschen Hauses am Markte zu Jena und blätterte alsbald sogar im soeben erschienenen Hyperion-Fragment des frisch nachdrängenden, von Göte verstohlen verehrten Hölderlin, als auch dieser das Haus Schillers betrat. In einem ausführlichen Brief berichtet Hölderlin Mitte November 1794 Neuffer, einem Intimus aus Studentenjahren, von seinem nun inszenierten Schlag gegen Göte, indem er den Armen nahezu »übersehen« ! hatte : »Auch bei Schiller war ich ... Ich trat hinein, wurde freundlich begrüßt, und bemerkte kaum im Hintergrunde einen Fremden ... Schiller nannte mich ihm, nannt´ ihn auch mir ... Kalt, fast one einen Blik auf ihn begrüßt ich ihn, und war einzig im Innern und Äußern mit Schillern beschäftigt ... Schiller brachte die Thalia, wo ein Fragment von meinem Hyperion u. mein Gedicht an das Schiksaal gedrukt ist, u. gab es mir. Da Schiller sich einen Augenblik darauf entfernte, nahm der Fremde das Journal vom Tisch, wo ich stand, blätterte neben mir in dem Fragmente, u. sprach kein Wort ... Er wandte sich darauf zu mir, erkundigte sich nach der Frau von Kalb, nach der Gegend und den Nachbarn unseres Dorfs, u. ich beantwortete das alles so einsylbig, als ich vieleicht selten gewohnt bin« (Hölderlin, Stuttgarter Ausgabe, 6.1, 140). Infam ! Nicht genug aber ! Begann Hölderlin doch zudem mit Götes eifersüchtig gehüteter Ersatzmutti Charlotte von Stein zu flirten und sie für sich zu interessieren, was ein intim-ersuchender Brief Charlotte von Steins an Charlotte Schiller vom 7. November 1794, also unmittelbar nach der Episode im Schillerschen Haus enthüllt: »Da Ihnen die gelehrte Welt bekannter ist als mir, so schreiben Sie mir doch, wer der Hölderlin ist; die Fragmente haben mich sehr interessiert« (Ludwig Urlichs, Briefe an Schiller, Bd. 1, S. 298). So kann Hölderlin bezugnehmend auf die Jenaer Ereignisse um Göte in einem Brief vom 26. Januar 1795 an Hegel triumphieren, »daß mir recht eigentlich das Herz lachte, u. noch lacht, wenn ich daran denke« (Hölderlin, Stuttgarter Ausgabe, 6.1, 155).
     Zuviel. Der empfindsame Göte hat sich zeitlebens nicht von dieser Episode erholt. Nachweislich schwor der Erschütterte ab 1794 den Weltereignissen ab, nahm vom Zeitgeschehen nur noch die allernotwendigste Notiz, reiste seiner Gewohnheit nach nicht mehr und zog sich in Weimar aufs Private zurück. Hilflos bäumte er sich drei Jahre später noch einmal auf und versuchte sein Comeback, indem er in einem Brief an Schiller, datiert auf den 23. August 1797, Hölderlin als »Hölterlein« (Göte, Sämtliche Werke, Hanser, 8.1, 400) lächerlich zu machen und auf den Pfad seiner eigenen Mediokrität zu locken sucht : »Ich habe ihm besonders gerathen, kleine Gedichte zu machen und sich zu jedem einen menschlich interessanten Gegenstand zu wählen«. Bettina von Arnim hat die Verlorenheit Götes schon Mitte des 19. Jhdt. erfühlt. In einem Brief vom 27. Dezember 1849 berichtet Ch. Th. Schwab seinem Vater Gustav Schwab von einem Abend bei Bettinen : »Ich fragte sie, ob sie nicht wisse, wie Göte zu Hölderlin gestanden, warum er ihn so ungünstig behandelt ? Das beantwortete sie kurz so (metaphysisch oder psychologisch, denn sie wußte nichts Positives) : ›Göte konnte einen ihm superioren poetischen Geist nicht ertragen und stieß ihn daher zurück«.1 Hölderlin zeigte sich unbeeindruckt. Göte aber vegetierte fortan mit Eckermann in Weimar und gab uns Proben kulminierender Zerrüttung. Führte den hoffnungslosen Kampf des verlachten Buben gegen die aufgewachte Dichterwelt, indem er den Mißbrauch seiner Stellung, deren Testfall einst die Ausschaltung von Lenz gewesen war, weiter perfektionierte, sich in Anfällen von Größe mit Shakespeare verglich und über Tieck stellte und schließlich gar fordernd gegen Mutti Natur auftrat, die seiner Meinung nach »verpflichtet« sei, »mir eine andere Form des Daseins anzuweisen, wenn die jetzige meinem Geist nicht ferner auszuhalten vermag« (vgl. die vorangehenden Ausgaben dieser Dreimonatsschrift).
     Für die Unterhaltung, die Hölderlin uns damit gewährte, ist ihm unser zusätzlich zeitloser Dank nachzurufen.

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1 So bei Herrn Adolf Beck : Ch. Th. Schwab über Bettina von Arnim, Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1964. Dort die S. 373