Dokumente aus den Dunkelkammern religiöser Wahnideen ——

Simeon Stylites oder Iß, was Gott dir gegeben hat

Seine Eltern hatten ihn leidenschaftlich geliebt, und wenn wir seinem Lobredner und Biographen glauben können, begann er seine Heiligenlaufbahn damit, seinem Vater das Herz zu brechen, der vor Kummer über seine Flucht starb. Seine Mutter jedoch siechte dahin. Siebenundzwanzig Jahre nach seinem Verschwinden, zu einer Zeit, als seine Kasteiungen ihn berühmt gemacht hatten, hörte sie zum ersten Mal, wo er war, und eilte ihn zu besuchen. Aber all ihre Mühe war vergebens. Keine Frau hatte Zutritt zu seiner Behausung, und er gestattete der Mutter nicht einmal, einen Blick in sein Antlitz zu werfen. Ihre Beschwörungen und Tränen waren mit Worten bitteren beredten Tadels geemischt. ›Mein Sohn‹, soll sie gesagt haben, ›warum hast du das getan ? Ich habe dich in meinem Leib getragen, du hast meine Seele mit Kummer gemartert. Ich gab dir Milch aus meiner Brust, du hast meine Augen mit Tränen gefüllt. Für die Küsse, die ich dir gab, hast du mir die Qual eines gebrochenen Herzens bereitet; für alles, was ich für dich getan und gelitten habe, hast du mir mit dem grausamsten Unrecht heimgezahlt.‹ Schließlich sandte ihr der Heilige die Botschaft, daß sie ihn bald sehen würde. Drei Tage und drei Nächte hatte sie geweint und ihn umsonst beschworen, und nun, erschöpft von Alter, Kummer und Entbehrung, sank sie entkräftet zur Erde und hauchte ihren letzten Seufzer vor dieser ungastlichen Tür. Dann trat der Heilige, begleitet von seinen Anhängern, zum ersten Mal heraus. Er vergoß einige fromme Tränen über dem Leichnam seiner gemordeten Mutter und sprach ein Gebet, in dem er ihre Seele dem Himmel anempfahl ... Und dann — unter dem bewundernden Gemurmel seiner Schüler — kehrte der heilige Muttermörder zu seinen frommen Pflichten zurück.
Ein entsetzlicher, für die Umstehenden unerträglicher Gestank ging von seinem Körper aus, Würmer fielen an ihm herab, sobald er sich bewegte, und füllten sein Bett. Mitunter verließ er das Kloster und schlief in einer ausgetrockneten Quelle, in der angeblich Dämonen hausen sollten. Er erbaute nacheinander drei Säulen, deren letzte 60 Fuß hoch war und kaum zwei Ellen Durchmesser hatte. Auf dieser Säule verweilte er dreißig Jahre, jeder Witterung ausgesetzt, wobei er seinen Körper rasch und unaufhörlich im Gebet fast bis zu den Fußspitzen neigte. Ein Zuschauer versuchte, diese raschen Bewegungen zu zählen, gab aber vor Ermattung auf, als er bis 1244 gekommen war. Ein ganzes Jahr lang, so hören wir, stand der Heilige Simeon auf einem Bein. Das andere Bein war mit abscheulichen Geschwüren bedeckt, und sein Biograph, der an seiner Seite stand, mußte die Würmer, die von seinem Körper herabfielen, aufheben und sie wieder in die Wunden legen, wobei der Heilige dem Wurm sagte : ›Iß, was Gott dir gegeben hat‹.

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